Vorlauf

Lutz Dammbeck
DER MALER KAM AUS FREMDEM LAND...
(1987-1988)

"Der Maler kam aus fremdem Land, drum ist er hier noch unbekannt.
Er kam aus einer fremden Welt, drum ist er hier auf sich gestellt."

Hamburg, Dezember 1986. Zunächst hatte ich nach der Ausreise nichts, was ich vorzeigen konnte, alle künstlerischen Arbeiten waren in Leipzig geblieben und standen dort im Atelier. Was ich bei der Ausreise unter Wäsche versteckt im Zug mit nach Hamburg geschmuggelt hatte, waren einige Farbdias meiner Arbeiten. In einem Billiglabor ließ ich Abzüge herstellen und bastelte damit eine kleine Mappe.

Der ehemalige Kulturattaché der Ständigen Vertretung in Ost-Berlin, der inzwischen in Kiel in einem Ministerium arbeitete, vermittelte mir einen Termin in der Hamburger Produzentengalerie. Im kleinen Büro neben dem nicht sehr großen Ausstellungsraum werkelten vier bebrillte Herren an der Versendung von Einladungskarten. Sie bereiteten die Vernissage auf einer Kunstmesse vor. Zwischen dem Eintüten und Zukleben der Kuverts schaute sich einer meine Mappe an. Das Ganze dauerte vielleicht vier Minuten. Hmm, sieht aus wie Rauschenberg, sagte er, damit können wir nichts anfangen, ist doch ein bisschen sehr hinter dem her, was für uns angesagt ist. Gehen Sie mal in die Hamburger Kunsthalle, da haben wir unsere Leute auf zwei Etagen platziert, da sehen Sie, wo’s lang geht. Hamburg ist ein schwieriges Pflaster, Sie wären besser im Osten geblieben.

Na gut, bleiben die Kunstvereine, dachte ich. In Bonn versuchte ich einen Termin mit der Leiterin des Kunstvereins zu bekommen. Als ich Karin Thomas, die Lektorin des DuMont Verlags, die meine Arbeit so prominent in ihrem Buch Zweimal deutsche Kunst nach 1945 platziert hatte, um eine Vermittlung bat, blieb sie merkwürdig reserviert. Ach, sagte sie, ich kenne doch diese Leute gar nicht, da kann ich Ihnen leider nicht helfen. Versuchen Sie’s doch einfach mal selbst.

Nachdem ich mehrere Tage am Telefon an der Vorzimmerdame gescheitert war, fuhr ich einfach nach Bonn. Frau Pohlen ist nicht da, wurde mir im Vorzimmer ausgerichtet. Aber so wollte ich mich nicht abspeisen lassen. Ich ging einfach weiter ins angrenzende Zimmer und stand plötzlich vor Frau Pohlen, die an ihrem Schreibtisch saß. Hören Sie, sagte sie, ich habe keine Zeit, ich kenne Sie nicht, und mich interessiert deshalb auch nicht, was Sie mir zeigen wollen. Das mag ja im Osten ganz interessant gewesen sein, aber hier ist es nicht relevant. In ihren Augen las ich echte Verwunderung über die Anmaßung zu glauben, ich könnte ihr etwas zeigen, was ihren Standards entsprechen würde.

Das brachte also nichts. Die Claims waren abgesteckt, es gab keinen Bedarf an Neuzugängen. Im Moment war ich ein Nichts in kurzen Hosen, und begann wieder bei Null. Auf die Frage meiner Mutter, was willst Du denn im Westen machen, du kennst doch niemanden hatte ich frohgemut geantwortet: Ich kann doch im Hafen arbeiten. Eine kurze Stippvisite hatte mir schnell gezeigt: Das war nichts für mich.

Also setzte ich mich an den Küchentisch, ein Atelier konnte ich mir noch nicht leisten, und überlegte. Worüber hätte ich etwas zu erzählen? Über meine Erfahrungen als Künstler in der DDR in den letzten Jahren? Ich könnte versuchen, darüber einen Film zu machen. Wen sollte das aber interessieren? Obwohl ich inzwischen gelernt hatte, dass "der Osten" im Westen niemanden wirklich interessierte, schrieb ich ein paar Seiten mit dem Arbeitstitel „Bildwechsel”: Das Porträt einer Generation von Künstlern in der DDR, die die Väter verließ, weil sie nicht werden wollte wie diese. Einen Dokumentarfilm hatte ich bisher noch nicht gemacht. Ich hatte auch noch nie ein Interview geführt. Doch ich musste etwas unternehmen. Ich verschickte die paar Seiten an verschiedene Fernsehsender. Die Namen der jeweiligen Kulturredakteure erfragte ich bei den Pförtnern.
Drei Wochen später rief jemand vom Südwestrundfunk an, stellt sich als Ebbo Demant vor, und sagte: Der Stoff interessiert mich. Ich gebe Ihnen 50.000 DM, den Rest besorgen Sie sich bitte woanders. Aber rufen Sie mich nicht wieder an und fragen wie das geht, im Westen einen Film zu machen. Das müssen Sie schon selber rausfinden. Er legte auf. Der Kaffeelöffel fiel mir auf den Kuchenteller. Wie geht das, im Westen einen Film zu machen? Und wie viel waren 50.000 DM? Reichte das Geld? Und wenn nicht, wie viel brauchte ich noch zusätzlich?

In Hamburg gab es für mich zunächst nur die paar ehemaligen Ostler, die ich so etwas fragen konnte. Darunter waren auch Hannes und Billy Schönemann, Absolventen der Filmhochschule in Babelsberg. Nach dem Freikauf aus der DDR-Haft wegen versuchter Republikflucht waren sie in Hamburg gelandet. Gleich nach der Ankunft fielen sie durch Vermittlung von „Barbara bittet” (ein nach dem 17.Juni 1953 in Hamburg gegründetes privates Netzwerk von Frauen aus der guten Hamburger Gesellschaft, das als Nothilfe funktionierte und in der Wochenzeitschrift DIE ZEIT mit Inseraten auf sich aufmerksam machte) in die Hände eines Journalisten vom Stern, der eine Serie über "Zuchthäuser in aller Welt", so meine Erinnerung, recherchierte. So kam er auch auf Hannes und Billy zu, fand Gefallen an den beiden und führte sein "Material" in den Kreis von Alt-68ern, Spiegel- und Sternredakteuren und West-Berliner Künstlern ein, der sich im toten Winkel des Zonenrandgebiets in Lüchow-Dannenberg niedergelassen hatte. Unter der dortigen Prominenz war nicht nur ein Anwalt aus Hannover, der später Bundeskanzler werden würde, sondern auch ein Produzent aus Hamburg, der Hannes und Billy auf die Beine helfen sollte. Hannes hatte noch nichts zum Anbieten und schob mich zum Testen vor. So fand ich mich mit meinen Fragen und dem vierseitigen Konzeptpapier in einem eleganten und zunächst leeren Hamburger Produktionsbüro wieder, das sich schnell mit einigen jungen Herren in Armani-Anzügen und dem Senior der Firma, im klassischen Hamburger Tweed, füllte. Ehe ich mich versehen hatte nahm mir eine Sekretärin mein Konzept aus der Hand und sagte freundlich: Ich kopiere das mal eben. Vorsicht, sagte meine innere Stimme, du musst Herr der Lage bleiben, es ist dein Film, lass ihn dir nicht aus der Hand nehmen, auch wenn du von der Produktion eines Films noch keine Ahnung hast.

Mein Filmkonzept war, von heute aus gesehen, naiv und sollte eine "Einheit" abbilden, ein Netzwerk das sich zwischen den Kunstzentren der DDR in Leipzig, Dresden, Ost-Berlin und Karl-Marx-Stadt gebildet hatte, und das eine Gegenwelt zur offiziellen DDR-Kunst darstellte. Dabei unterschlug ich die Differenzen, um die ich schon in der DDR wusste oder die ich zumindest instinktiv erahnte.
Diese Ahnung hatte mit Figuren wie dem Dichter Sascha Anderson und seinem Kreis zu tun, in dem er in Berlin und Dresden die Fäden in der Hand hielt. In den 1980er Jahren galt Anderson als der Mittelpunkt einer Gruppe von Studenten der Kunsthochschule, zu der auch Cornelia Schleime und Ralf Kerbach gehörten, und verwaltete die Westkontakte der Gruppe. Das war die härteste Währung in der DDR. Zum einen bedeutete das den Zugang zu „richtigem” Geld, zum anderen erhöhten diese Westkontakte den Status und waren hilfreich für die Karriere im schmalen Segment der Gegenkultur im Osten wie später auch im Westen, in den die meisten bald abwanderten.

Anderson hatte schon die französischen Strukturalisten gelesen, hieß es, und vertrat eine Neopunk-Attitude, die über jede konkrete Kritik am Bestehenden erhaben schien. Warum strengt ihr Euch so an, was wollt ihr denn verändern, was zählt, ist die reine Kunst, Ideologien oder der Staat existieren doch gar nicht, schien sein ironisches Lächeln zu sagen, das von seinen zahlreichen Jüngerinnen und Jüngern kopiert wurde. Im Nachhinein betrachtet war das eine Zersetzungstaktik und Entpolitisierung der effektivsten Art, die aber für die Szene sakrosankt blieb, da an westlichen Vorbildern orientiert.

Als ich das erste Mal das Zimmer in der von ihm okkupierten Ost-Berliner Töpferwerkstatt sah, das als Sammelstelle für illegale Transporte von Kunstwerken und Manuskripten nach Westberlin diente, wurde mir klar, dass hier (und mit Anderson) etwas nicht stimmte. Da lagen fein säuberlich nebeneinander aufgereiht Stapel von Grafiken, zusammengerollten Leinwänden und Manuskripten, die für große westdeutsche Verlage, Nachrichtenmagazine, Galerien und Sammler bestimmt waren und nachts von Mitarbeitern der Ständigen Vertretung der BRD abgeholt und über die Grenze nach West-Berlin geschmuggelt wurden. Diese Sache stank und hatte einen doppelten Boden. Wer da mitlief, war naiv - oder hatte seine Gründe.

Inzwischen saß Anderson in einer großen Wohnung in West-Berlin und zog wieder seine Fäden. Trotzdem wollte ich zwei der ihm nahestehenden Künstler in meinem Film mit dabeihaben, die Malerin Cornelia Schleime und den Maler Ralf Kerbach. Zu beiden hatte ich in der DDR keinen persönlichen Kontakt gehabt, aber sie gehörten für mich mit zum Gesamtbild.
Mit Kerbach hatte ich in West-Berlin ein kurzes Vorgespräch. Eine Teilnahme am Film lehnte er aber aus mir bis heute unbekannten Gründen ab, so blieb nur Cornelia Schleime. Sie war die Besetzung für Dresden, für Ost-Berlin fiel meine Wahl auf Hans Scheib, einen Bildhauer. Und der Maler Hans-Hendrik Grimmling sollte, neben mir selbst, für Leipzig stehen. Also ein "Gruppenbild mit Dame" - und zugleich ein Wunschbild.

Denn jeder der in meinem Film Porträtierten wollte eigentlich auf seine eigene Weise berühmt werden, im Ranking aufsteigen und war bereit Zweckbündnisse einzugehen, die auch faule Kompromisse erforderten. Im Osten, wie nun im Westen.

Erst nach Fertigstellung des Films wurde publik, dass Anderson akribisch für den Staatsicherheitsdienst der DDR gearbeitet hatte. Andersons Mutter war eine berühmte Regisseurin im DEFA-Studio für Trickfilme, und der kleine Sascha hatte das Personal des Studios zunächst mit ultrakommunistischen Parolen malträtiert. Nach einer kleinkriminellen Affäre kam er kurzzeitig in Haft, und dort wurde er von der Stasi unter Druck gesetzt und als inoffizieller Mitarbeiter angeworben und verpflichtet. Aber das wusste ich noch nicht, als ich mit der Vorbereitung des Filmes begann (ebenso war Uwe Kolbes Buch Brecht über Charakter und Anpassungskünste von DDR-Intellektuellen wie Bertolt Brecht, Christa Wolf, Wolf Biermann bis hin zu Heiner Müller und dessen päpstlicher Bedeutung für die Szene vom Prenzlauer Berg noch nicht geschrieben, und das im Buch geschilderte Ausmaß der moralischen Korruption und deren Auswirkungen auf Ästhetik, Inhalte und Moral in der DDR-Kultur noch nicht vorstellbar).

Die Produktion meines Films wurde dann durch mysteriöse Vorfälle beeinträchtigt. Was ich nicht wusste: Die Hamburger Produktionsfirma machte auch gute Geschäfte mit der DDR. Zudem war einer der mich betreuenden Produzenten in den 1970er Jahren leitendes Mitglied der KPD-AO, einer kommunistischen Splittergruppe (siehe: "Archiv"). Eines Tages rief er mich an. Er habe gute Nachrichten. Ein ehemaliger "Bürger der DDR" habe sich bei ihm beworben und gesagt, er kenne mich gut, und so habe er ihn als neuen Mitarbeiter für meinen Film eingestellt. Diesen "DDR-Bürger" kannte ich wohl. Er hatte in Jena einen Filmclub geleitet und war mir damals durch sein eher untypisches Äußeres und Verhalten merkwürdig vorgekommen, weil er mehr an einen Sportlehrer, als an den Leiter eines Filmclubs erinnerte. Nun war er in Hamburg aufgetaucht und in der kleinen Gesellschaft der ehemaligen "Ostler" gab es die Warnung "Stasi!" Man riet sich gegenseitig zur Vorsicht. Es war bekannt, dass in den westdeutschen Behörden und nicht nur in den Erstaufnahmelagern, Mitarbeiter der DDR-Staatsicherheit saßen. Am nächsten Tag klingelte das Telefon und der Produktionsleiter der Hamburger Firma teilte mir mit, dass ebenjener ehemalige DDR-Filmklubleiter meinem Film als Aufnahmeleiter zugeteilt worden war. Auf meinen Protest hin hieß es: Aber so was. Und wir dachten, Sie freuen sich, weil Sie beide sich doch schon aus der DDR kannten? Nun seien Sie bitte nicht so neurotisch. Dieser "Aufnahmeleiter" brachte dann auch das Paket mit den Filmnegativen zur Post, denn nach Drehende wurden die belichteten Negativrollen nach Baden-Baden ins Kopierwerk des Südwestrundfunks geschickt. Das war eine vertraglich vereinbarte Beistellung des Senders. Das war diffizil, da man erst nach Erhalt der Positivmuster das Ergebnis dessen sah, was gedreht worden war. Nach drei Wochen ohne Nachricht wurde ich unruhig. Nur Geduld, wurde ich beruhigt. Nach fünf Wochen bekam ich Angst, was war da los? Dann kam Spätabends der Anruf des Produktionsleiters: Die belichteten Negativrollen sind aufgetaucht, und werden nun entwickelt. Am nächsten Morgen dann der Anruf mit der Hiobsbotschaft: Die Rollen sind leider unbrauchbar, es scheint eine Druck- oder Vorbelichtung gegeben zu haben. Möglicherweise durch Röntgeneinstrahlung. Der "DDR-Bürger" hatte das Paket zur Post gebracht. Die Ursachen ließen sich dann nicht klären, und die Versicherung bezahlte dem Produzenten den Materialschaden. Einwirkungen der Staatssicherheit der DDR auf die Ereignisse ließen sich nicht beweisen, aber auch nicht ausschließen. Ein Geheimdienst hinterlässt keine Spuren, und ohne konkrete Beweise blieb es nur ein Gefühl. Ich nahm es aber als letzten Gruß aus der alten Heimat und als Warnung: Wir sehen Dich, sei schön vorsichtig, pass auf, was Du machst!

Ich drehte den Film ein zweites Mal. Und ich hatte auch noch andere Probleme. Die Herstellung meines Films endete im Streit mit der Produktionsfirma um jeden Bleistift und jeden Groschen. Ich konnte den Film zwar fertigstellen und der Südwestrundfunk und andere Dritte Programme der ARD sendeten ihn auch mehrmals, aber am Ende musste ich einen Anwalt einschalten. Ich war inzwischen in die Gewerkschaft eingetreten, die die Kosten für den Anwalt übernahm, der mir nun half, meine Rechte durchzusetzen. Aber ich hatte gesehen wie produziert wurde, und worauf es dabei ankam. Das war eine wichtige Erfahrung für mich, für die ich der Hamburger Produktionsfirma bis heute dankbar bin. Den nächsten Film produziere ich selber, dachte ich. Was die können, das kann ich auch.