Filmtagebuch

Lutz Dammbeck
DAS MEISTERSPIEL (1995-1998)

In der letzten Phase der Endfertigung eines Films stellt sich naturgemäß die Frage: Was machst Du eigentlich danach? Oft helfen gütige Zufälle, diese Frage zu beantworten. So war es auch im Fall des Films DAS MEISTERSPIEL.
Ich saß im November 1995 an der Endfassung meines Films DÜRERS ERBEN, als der österreichische Filmemacher Herbert Brödl im Schneideraum auftauchte und mir die Kopie eines Manifest in die Hand drückte, das er in Wien von dem Maler Arnulf Rainer erhalten hatte. Brödl war mit Rainer befreundet und bewohnte in Enzenkirchen, nahe der deutschen Grenze und der Bahnstation Schärding, ein Haus, das Rainer gehörte, und in der Nähe von Rainers Anwesen lag.
Brödl sagte: „Schau Dir bitte diesen Text mal genauer an. Du hast doch einen Film über Breker und rechte Ideologie gemacht. Wir denken, das Manifest und die Attentäter kommen von rechts. Vielleicht findest Du im Text Hinweise auf die Verfasser und die Kunstattentäter.“
Arnulf Rainers Bilder waren 1994 von einem bis heute unbekannten Attentäter schwarz übermalt worden, was ein Zitat von Rainers eigener Technik und künstlerischen Strategie darstellte: die Übermalung des Übermalers. Das Bekennerschreiben tauchte im Oktober 1995 auf.
Den Text fand ich auf Anhieb interessant, gespickt mit Zitaten und Verweisen von Raimundus Lullus, Otto Mauer bis hin zur „Büchse der Pandora-Linken“. Und interessanterweise war es nicht wirklich ein „anti-modernes Manifest“, sondern eher eine vom Gestus des „Halt ein, kehr um, bessere Dich!“ getragene Kritik, oder besser: Predigt, an einer als „verludert, korrumpiert und zahnlos gewordenen“ empfundenen Moderne – möglicherweise von einem enttäuschten „Modernen“ selbst.
Wie auch immer, den Text wollte ich spontan sofort verfilmen. Dass daraus eine Reise wurde, die mich bis an die slowenische Grenze, zur Geschichte des Kärntner Abwehrkampfs, in Ortsgruppenversammlungen der FPÖ, auf den Ullrichs-Berg, in international renommierte Museen und zu Kunstsammlern und letztlich zu den Trümmern einer Moderne führte, die sich selbst nicht mehr ernst nahm und sich scheinbar verspielt hatte – das konnte ich anfangs noch nicht ahnen.

Die Ausgangslage
Um im Nachhinein die Spannungen verständlich zu machen, unter denen die Recherchen und die Dreharbeiten für diesen Film stattfanden, muss man sich wieder an einige der damaligen zeitgeschichtlichen Koordinaten erinnern. 1989 fiel die Berliner Mauer, und die Erosion des Ostblocks ging in seine völlige Auflösung über. In ganz Europa gab es Ängste vor einem "Rückruf in die Geschichte" des wiedervereinigten Deutschlands, und dessen möglicherweise noch latentem faschistischen Restpotential. In einigen Ländern Europas erzielten rechts-konservative Parteien beträchtliche Wahlerfolge und schienen auf dem Vormarsch, unter anderem die FPÖ unter Haider in Österreich. Eine "Neue Rechte" formierte sich, vor allem in Frankreich unter Le Pen. Die Nachkriegsmoderne erschien sowohl in politischer wie in kultureller Hinsicht zur Disposition gestellt, die Werke von Ernst Jünger, Friedrich Nietzsche oder Carl Schmitt erfuhren eine Renaissance, vor allem im Osten und Südosten Europas. Dieser Entwicklung stand eine aktuelle moderne Kunst gegenüber, die sich zu wiederholen schien, und für die der Markt zur bestimmenden Dominante geworden war. Alle widerständigen Impulse der moderne Kunst schienen sich aufgelöst zu haben in einem Klima des Wohlverhaltens und der Akzeptanz der herrschenden Verhältnisse, die beschleunigt durch die technologische Entwicklung sich anschickten, Ideen von Weltgesellschaft und Globalisierung umzusetzen. Es herrschte andererseits ein Klima der Erwartung wie Angst vor einem möglichen "rechts-konservativem Rollback", das durch die Medien lustvoll ventiliert und durch Einlassungen wie die von Jean Baudrillard, der die aktuelle moderne Kunst in einer der Rechten nahestehenden Zeitschrift (KRISIS) angriff und kritisierte, verstärkt und scheinbar bestätigt wurde.

In dieser Situation begann am 3.Dezember 1993 in Österreich eine Serie von Brief- und Rohrbombenanschlägen, die bis 1997 andauerte und in Österreich und Deutschland (wo es auch zu Anschlägen kam) zahlreiche Tote und Verletzte forderte. Die Terroranschläge einer bis dahin unbekannten Terrorgruppe „Bajuwarischen Befreiungs-Armee“ (BBA) waren konzipiert als ein historisches Rollenspiel, das die Befreiung Wiens 1683 vor den Türken nachspielte. Den Anschlägen folgten Bekennerschreiben, in denen nach historischen Ereignissen und Figuren der österreichisch-bajuwarischen Geschichte benannte Kampftrupps ("Wir wehren uns. Graf Ernst Rüdiger von Starhemberg") die Anschläge begründet und politische Forderungen aufgestellt wurden. Ziel der Anschläge waren demnach der Stopp einer befürchteten "Umvolkung Österreichs" durch den Zuzug von Asylanten und "einer Flut slawischer Fremdrassiger" und eine Zerstörung der "deutschen Identität" Österreichs. Verantwortlich dafür sahen die Attentäter eine "reinrassige Tschuschenregierung" in Wien, die im Auftrag internationaler Interessen handelte. Zwischen den Bombenserien kam es 1994 auch zu einem Attentat auf Bilder des berühmten österreichischen Malers Arnulf Rainer. Zwischen dem 30.August und dem 13.September 1994 hatten Unbekannte in der Wiener Kunstakademie 27 Bilder Arnulf Rainers mit schwarzer Farbe übermalt. Ein Bild übermalten die Attentäter mit dem Text: UND DA BESCHLOSS ER AKTIONIST ZU SEIN, scheinbar die Abwandlung eines Hitler-Zitats aus "Mein Kampf": UND DA BESCHLOSS ICH POLITIKER ZU WERDEN. Auffällig war, dass gezielt vor allem Bilder übermalt wurden, die Rainer 1989 in einer großen Personalausstellung im New Yorker Guggenheim Museum gezeigt hatte. Die Polizei und die Medien jagten nun das "Phantom von Wien".

Während ein Teil der Presse und der Kunstszene der Meinung war: die Attentäter kommen von rechts, war ein anderer Teil der festen Überzeugung: der Rainer wars selbst. Als die Polizei die Annahme äußerte, Rainer und sein Management hätten "eine neue Entwicklung auf dem Kunstmarkt einleiten wollen", zeigte sich dieser darob gekränkt, ließ einen Schlaganfall vermelden, und zog sich im Zorn kurz vor der Emeritierung von der Akademie zurück.
Das große Rätselraten in Wien und Umgebung ging nun um: wer steckte hinter den Anschlägen? Waren Kunstattentat und Bombenattentate voneinander isolierte Vorgänge, oder Teile eines Gesamtkonzepts, möglicherweise einer rechts-terroristischen wie anti-modernen "Wortergreifung"? Waren Kunstzerstörer und Bombenleger gar identisch, und der Anschlag gegen die Kunst Rainers als einem prominenten Stellvertreter der Moderne und der Demokratie gar Teil eines ausgeklügelten Gesamtkonzepts, wie es Analysten der Vorkommnisse aus dem Umfeld Rainers der Polizei nahe legten?
Als die Erregungswellen ob des Anschlags auf die Kunst der Moderne sich etwas gelegt hatten, tauchte ein Jahr später das "Bekennerschreiben" auf und mischte die Situation neu auf. Nun begann das Spiel in den Medien von neuem.
Von alldem hatte ich aber nichts mitbekommen. Ich arbeitete an der Endfassung meines Films DÜRERS ERBEN und war mit den Vorbereitungen für eine Südamerikareise mit dem Film ZEIT DER GÖTTER beschäftigt gewesen, bis mir Herbert Brödl das Bekennerschreiben in den Schneideraum brachte und über die Vorkommnisse im fernen Österreich berichtete.
Ich bat ihn nun um einen Kontakt zu Arnulf Rainer und schon beim ersten Treffen im Dezember 1995 in dessen Haus in Enzenkirchen wies Rainer mich auf mir bis dahin unbekannte Areale der österreichischen Rechten hin, in denen ich mich nach den Tätern umsehen sollte. Er nannte das Umfeld der Zeitschrift Aula und der Burschenschaften Olympia und Scardonia, auch der Name seines ehemaligen Studenten Christian Böhm-Ermolli fiel sofort, und dessen enge Beziehungen zur FPÖ. Von Rainer erfuhr ich auch erstmals von den zeitgleichen Anschlägen der BBA, was in Deutschland in den Medien bisher eher als Randnotiz vorgekommen war, und dass er einen Zusammenhang mit dem Kunstattentat in der Akademie vermute. Rainer schlug mir nun vor, ich sollte als Gegenleistung für seine Zustimmung zu einem Film darüber "undercover" in der rechten Szene recherchieren und Ihm dann regelmäßig Bericht erstatten.
Er selbst habe zwar der Polizei schon viele Hinweise und sogar Täterprofile geliefert, aber diese würde nichts herausbekommen. Geld könne er mir für den Film allerdings nicht geben (Rainer war auch berühmt für seinen Geiz), das müsse ich mir schon woanders besorgen.

Und so machte ich mich weisungsgemäß auf zu einer Expedition in rechte und rechts-konservative Gefilde. Die Expedition begann in Hamburg. Zugang nach "rechts" fand ich durch Reinhold Oberlercher auf Vermittlung von befreundeten Filmemachern, die "Lerche" noch aus SDS-Zeiten kannten, wo er einer der Wortführer und Aktionisten der Hamburger 68er Szene gewesen war. Aus dem radikalen linken Studentenführer und Marxisten war nun ein "Drachentöter der Moderne" geworden, der mir stolz den Vermerk im Verfassungsschutzbericht von 1996 zeigte, wo er als "Intellektualisierer der rechten Szene" bezeichnet wurde, der nun der NDP das Wirtschaftskonzept für ihr Parteiprogramm entwarf.
Oberlercher wohnte in einer anderhalb Zimmer großen Sozialwohnung im Hamburger Arbeiterviertel Barmbeck und nahm gerade an einer vom Arbeitsamt verordneten Umschulungsmaßnahme teil, um nicht den Anspruch auf Sozialhilfe zu verlieren.
Er analysierte nun nicht nur den Text des "Bekennerschreibens“, sondern erklärte mir auch nebenher, was auf der Tagesordnung stehe, nämlich ein neues Ordnungssystem auf der Grundlage von Hegels Rechtsphilosophie und angelehnt an Bismarcks Reichsgedanken. Er sah in dem Anschlag gegen die Bilder Rainers eine witzige Aktion und ein bisschen von dem, was er selbst bei Veranstaltungen in Wien seit Jahren gepredigt habe: raus aus den klandestinen rechten Diskutierzirkeln und weg von den Selbstverstümmelungsaktionen in den Duellierzimmern der Burschenschaften und hin zu Aktionen im Stil der 68er und einer "action direct". Die beim Attentat wie im Bekennerschreiben angewandte Taktik sei für ihn ein völkisches Kulturfraktat, das in das Genom der Moderne eingeschmuggelt wurde. Der Stil des Autors erinnerte ihn an den Herausgeber der Zeitschrift ETAPPE in Bonn, Heinz-Theo Homann, zu den ich dann auf seine Empfehlung hin Kontakt aufnahm. Oberlercher klärte mich auch über das spezielle historische Verhältnis zwischen Deutschland, besonders Bayern, und Österreich auf, sowie über die Bedeutung des 1848 aus der anti-Metternich-Bewegung hervorgegangenen "Dritten Lagers" und empfahl besonders die Lektüre von Othmar Spann Der wahre Staat. Da sei schon alles entwickelt, was auch ihm vorschwebe, „Spann ist wichtiger als Marx, lieber Herr Dammbeck.“ Österreich und Wien seien seit jeher eine Wetterecke der Weltpolitik gewesen und übrigens seit 1945 unbesetzter Teil des Deutschen Reichs. Das sei nun der Zipfel, um das Deutsche Reich zurück zu gewinnen, zuerst durch Anschluss Deutschlands an Österreich und dann an die Schweiz. Das Vorspiel für die Schaffung dieses neuen Vierten Reichs finde nun anscheinend mit dieser Wiener Wortergreifung statt, um die Wortführerschaft erlangen. Der folge dann logischerweise die Machtergreifung. Für den Neuaufbau dieses Vierten Reichs stehe er bereit: "...gebt mir einige Hundertschaften idealistischer deutscher Feuerköpfe zur Schulung – und ich werde mit ihnen die BRD aus den Angeln heben!"
Die Strategievorlesung Oberlerchers erschien mir verrückt und surreal, aber ich erhielt durch ihn die notwendigen Referenzen, um Zugang zu Andreas Mölzer (dem ehemaligen Chefideologen der FPÖ, der bei Haider in Ungnade gefallen war), zu Jürgen Hatzenbichler (der mit Mölzer zusammen die Zeitschrift Zur Zeit herausgab) und zu dem von Rainers Schüler Christian Böhm-Ermolli gegründeten "Konservativen Club" und tief hinein ins Milieu der FPÖ zu bekommen. Mölzer und Hatzenbichler waren es dann auch, die mir die Kontakte zu den Verwandten von Arnulf Rainer aus dem Ur-Kärntner Milieu vermittelten, wo ich die Reste einer historisch gewachsenen Mischung aus Abwehrkampf, Napola und deutsch-nationaler Gesinnung besichtigen konnte.

Das Manifest des Übermalers des Übermalers
Bis heute ist unbekannt, wer den Text verfasste und wer ihn verschickte.
Das Bekennerschreiben oder "das Manifest des Übermalers" tauchte erstmals am 16.10.1995 auf und wurde zunächst in einem anscheinend für diesen Anlass entwendeten Kuvert des in der Wiener Akademie am Schillerplatz ansässigen "Instituts für Gegenwartskunst" (das von Rainer mitgegründet wurde) an dessen Leiter Prof. Denys Zacharopoulos verschickt. Es wurde einen Tag später per Fax mit der Kennung "meyer - 17.10.1995" von einem Anonymus (den ich später ausfindig machen und, allerdings ohne nennenswertes Ergebnis, sprechen konnte) auch an verschiedene Medien und prominente Personen der Wiener Kunstszene versendet. Der Autor oder die Autoren schienen die Situation in Wien und speziell an der Akademie genau zu kennen und waren sowohl über Details aus der Biografie Rainers als auch über die Zustände in der Klasse Rainers an der Akademie genauestens informiert. Ich gab den Text nun "Analysten" verschiedenster Couleur zur Überprüfung, die folgendes herauslasen: der Autor sei ein Non-Konformer, gehöre weder linken noch rechten Gruppierungen an und sei ein Solitär. Festzustellen sei auch ein anti-NS Effekt (z.B. gegen die Aktion "entartete Kunst", auch werde "Germanisches" ironisiert, etwa am Beispiel des Odinszeichens, das von den Attentätern auf die Rückseite der Bilder gemalt wurde). Geschrieben sei das alles mit einer hochkomplizierten Zitattechnik, durchaus ironisch und nicht dumpf oder verbissen.
Geäußert werde im Text der Verdacht, der "Großmaler" Rainer habe die Bilder selber übermalt, und die Straftat nur vorgetäuscht, um sich als "Opferlamm der Moderne" zu stilisieren. Interessant erscheint der Hinweis auf eine "Wette" (S. 1 Bekennerschreiben), wobei unklar bleibt, wer die Wettpartner sind. Sicher sei, dass der Autor (oder die Autoren) in Wien säßen. Diese beklagten sich, dass sie "...nie manierlich gebeten worden sind, sich zu melden..." (S. 16). Ein kämpferischer Text, durchaus dialogisch, der das Gespräch will und Rainer nicht als Angeklagten sieht, der umerzogen, bestraft, oder gar ausgelöscht werden muss. Denn dann wären die Bilder ja völlig zerstört worden. So sei durch das "Übermalen" der Versuch einer Berührung, um in den Kontext der Kunst Rainers zu treten. Andererseits versuche der Text den Anschlag zu begründen, indem er das "Sündenregister" von Rainer und anderen Vertretern einer inzwischen saturierten Nachkriegsmoderne auflistet, die verkrustet sei, die ihre Ideale an den Kunstmarkt verraten habe und so zur "Staatskunst" verkommen sei. Attackiert wird auch wortreich die heutige Rolle des modernen Künstlers, für dessen Typus Rainer exemplarisch sei, der für nichts als nur noch für sich selbst stehe. Der Text wirft Rainer vor, dass er Sprengköpfe in die Kunst bringe, dass er quasi die Neutronenbombe gezündet habe. Alle Werte und Bindekräfte flögen auseinander, nur die Materie bleibe.
Der Text, so die Analysten weiter, sei stark von Philosophie und Logik geprägt, wobei der Autor teilweise seltene Namen und mittelalterliche Bezeichnungen verwende wie "SEY" "DASZ", PALLAWATSCH, ARS LULLIANA (was auf Raimundus Lullus verweise) oder KUNSTWOLLEN, was auf „Die Welt als Wille und Vorstellung“, auf Schopenhauer, auch Langbehn oder Richard Worringer verweise. Der Text enthalte aber auch Zitate von Walter Benjamin, Martin Buber, Monsignore Mauer, Walter Seiter oder Hegel, sowie merkwürdigerweise auch Verweise auf anarchosyndikalistische und situationistische Publikationen und Zusammenhänge der 1960er Jahre, etwa auf Guy Debord und dessen Begriff "Die Gesellschaft als Spektakel" oder mit "die Büchse der Pandora-Linken" Hinweise auf einen Verlag von altlinken 68ern in München, der mittlerweile eingegangen sei. Auch werde im Text behauptet, dem Bekennerschreiben habe ein Foto beigelegen, das die Täter/der-die Autoren am Ort der Übermalungen gemacht hätten (darum rankt sich allerdings bis heute ein Geheimnis, da dieses Foto nie als Original aufgetauchte und allen mir bekannten Beteiligten von Polizei bis Rainer nur in Form einer Kopie auf der letzten Seite des Bekennerschreibens vorlag).
Die Analyse solch einen Texts überforderte die Presse, wohl aber noch mehr die polizeilichen Ermittler und sorgte für Verwirrung und Konfusion eigentlich bei allen beteiligten Parteien und Interessengruppen. Alles zusammengenommen wirkte das Ganze, als wenn ein Veteran der Situationisten noch einmal zugeschlagen hätte, denn alle taktischen und theoretischen Vorgaben schienen eingelöst, um "eine Situation zu konstruieren". Frei nach Huizinga schienen "Spiel und Ernst" hier das Thema, und natürlich Hegels Diktum „Vom Ende der Kunst".

Der Anschlag auf die Bilder Rainers und die Bomben von Oberwart
War der "Fall Rainer" über ein Jahr vor sich hin gedümpelt und in den Medien zunehmend ratlos und pflichtschuldig abgehandelt worden, änderte sich die Stimmung, als das Bekennerschreiben auftauchte und den Fall scheinbar noch einmal deutlich politisierte. Rainer wurde nun in den linken Medien wieder als "radikalster Träger einer antifaschistischen Moderne in Österreich" gesehen, mit dem zugleich die Moderne an sich angegriffen wurde. Und es war Briefbombenzeit. Das verführte zu Spekulationen über den Zusammenhang beider Fälle, die aus dem Umfeld Rainers auch gezielt geschürt wurden.
Am gleichen Tag, als das Bekennerschreiben im Fall Rainer auftauchte, begann am 16.Oktober 1995 eine neue Briefbombenserie der BBA, wiederum begleitet mit zahlreichen Bekennerschreiben. Die Ermittler der STAPO gingen zunächst von einer kleinen Tätergruppe aus, Innenminister Einem nannte als Hypothese "ein politisches Komplott mit umstürzlerischen Zielen". Die FPÖ dagegen sprach im Parlament von der Urheberschaft des linken, antifaschistischen DÖW („Dokumentationszentrum des österreichischen Widerstands“), das DÖW wiederum vermutete die Täter in den Reihen der FPÖ, der Burschenschaften und deren Verbindungsleuten in die radikale rechte Szene.
Arnulf Rainer und sein Umfeld sahen einen Zusammenhang zwischen Kunstzerstörung und den Bomben der BBA gegeben, und auf verschiedenen Wegen gelangte dieser Verdacht auch in die Öffentlichkeit und in die Planspiele der Ermittler. Angeregt wurden diese polizeilichen Ermittlungen durch die Zuarbeit eines Professors am Juridicum der Universität Wien, der nicht nur Bewunderer der Kunst Rainers und gelegentlicher juristischer Berater von Rainers Galerie war, sondern auch gute Kontakte zu den Ermittlern hatte. Zu seinen Aufgaben gehörten in einer bestimmten Phase der Ermittlungen auch Treffs mit mir, die meist sehr konspirativ im Bahnhofscafé Rosenkavalier in Begleitung seines Pudels Pepi stattfanden und dazu dienten, herauszufinden, was ich wusste, plante und mit wem ich Kontakt hatte.
Im Ergebnis führten die Analysen und Anregungen dieses Juristen zu einem Fahndungsansatz der Sicherheitspolizei, der von einer Verbindung zwischen der juristischen Fakultät der Universität Wien und der Akademie am Schillerplatz ausging. Die Täter sollten demnach ein juristisches wie künstlerisches Studium absolviert haben und eine kleine, hochintelligente Gruppe von Jüngeren und älteren "Anleitern" sein, die diese Aktionen als subtile Verhöhnung von modernen Künstlern, Juden und Zigeunern geplant habe. Das machte den Anschlag auf die Bilder Rainers nun auf einen Schlag gefährlich und hochpolitisch − und bedeutsamer. Nun war es mehr als nur ein Schadensersatzdelikt. Diese Theorie schien sich auch mit einer im Auftrag des österreichischen Innenministeriums von einer Historikergruppe erstellten Analyse zu decken, die das "Spiel-Konzept" der BBA versucht hatte, zu entschlüsseln. Demnach waren die BBA-Aktionen geplant und realisiert als historisches Rollenspiel, das die Befreiung Wiens 1683 vor den Türken durch die christlichen Heere des Abendlandes nachspielte. Die Belagerer Wiens, die muslimischen Heere unter Führung des Großwesirs Kara Mustafa, symbolisierten das bedrohliche Fremde und die befürchtete Auslöschung einer deutschen Identität Österreichs. Nach den historischen Aufmarschplänen der christlichen Heere zur Entscheidungsschlacht schien die BBA Aufgabe- und Empfängeradressen der Bomben auszusuchen, erfand fingierte Absender und ordnete diese entsprechenden Zielpersonen zu.

Ich muss gestehen, der Ansatz, das Ganze als ein KUNSTSPIEL zu sehen, gefiel mir sofort.
Es schien mir auch einleuchtend, das „Spiel“ der BBA als ein "aktionistisches Gesamtkunstwerk" aus militärischen, historischen und künstlerischen Elementen zu sehen, in dem ich auch einen esoterischen Unterton wahrnahm. Das Interessante war: im Kunstbereich waren solche Spiele ein alter Hut, aber auf diese Art und Weise in die Öffentlichkeit getragen und so die alte Forderung der Avantgarde einlösend, die Grenzen zwischen Kunst und Leben aufzulösen – das war neu.
Mit dem Blick des an der Konzeptkunst geschulten Künstlers fielen mir auch bestimmte Details auf, so etwa die ikonografische Nähe einer Texttafel, die beim BBA-Anschlag von Oberwart am Tatort platziert worden war (Text: ROMA ZURÜCK NACH INDIEN!) zu dem Textbild in der Causa Rainer: UND DA BESCHLOSS ER AKTIONIST ZU SEIN - WORK IN PROGRESS. Bei der Verfassung beider Texte wie den Bekennerschreiben oder dem Entwurf des Spiels musste ein Künstler oder eine zumindest künstlerisch begabte Person beteiligt gewesen sein, die sich mit aktuellen Kunsttheorien wie Fluxus, Situationismus, Ideen vom nichtmateriellen Kunstwerk oder der wissenschaftlichen "Theorie des Spiels" auskannte. Die hatte seit den 1960/70er Jahren von den USA ausgehend auch in der europäischen Kunstszene Verbreitung gefunden. Das, was davon in der Gegenwartskunst, von Fahlström bis zu Mike Kelly, Chris Burden oder Tony Oursler seinen Niederschlag fand, war in den 1940er bis 1960er Jahren in der Mathematik als "Theorie des Spiels" entwickelt worden. Ursprünglich als mathematische Formel, um menschliches Verhalten vorauszuberechnen, wurde die Spieltheorie bald auch von den US-Militärs entdeckt und bei Planspielen als Strategiewaffe eingesetzt.
Spiel wurde hier als Gegensatz zu etwas Festgefahrenem, als Mittel, um dieses damit wieder in Bewegung bringen, definiert. Auch als Mittel, um Neues "spielerisch" und "aktionistisch" zu erproben, durch das Spiel "alternative Energie" anzuzapfen und neue Energien zufließen zu lassen.
"Ein Künstler erkennt sein Werk, wenn es ihm via Medien frei Haus geliefert wird...", hatte es im ersten Bekennerschreiben der BBA geheißen. Bei näherer Beschäftigung mit deren Kunst-Spiel erschien mir der "Fall Rainer" zunehmend fad. Rainers "Wahnsinn ist das innere Feuer der Moderne" als Variation auf den Wiener Aktionismus erschien mir wie dieser selbst nur ein Nachspiel katholischer Prozessionen und Rituale zu sein, dessen brisanteste und radikalste Ausformung wohl in der prä-faschistischen Erziehungsdiktatur der Mühl-Kommune bestanden hatte. Aber dessen „Lager“ hatte sich noch im Kunstkontext versteckt, der bei Bedarf und beim Nahen der Justiz als Schutzmantel übergeworfen wurde.
Das Spiel der BBA schien nun über solche Übertreibungskünste und Ablasshändel hinaus zu gehen, hier wurde aus "Spiel" blutiger Ernst, und entstand so ein krudes Wahngebilde aus Politik, Esoterik, historischen Bezügen und der aktuellen Kunsttheorie und Praxis entlehnten Elementen, das sich als "Gesamtkunstwerk" verstand. Den Bezugsrahmen lieferte ironischerweise eine Kunsttheorie und künstlerische Praxis, die den Kunstbegriff soweit "entgrenzt", "immaterialisiert", "kontextualisiert" und in "interventionalistische Praxen" "erweitert" hatte, dass nun theoretisch auch die Aktionisten der BBA darin Platz finden konnten.
Deshalb verfolgte ich auch gespannt die Versuche der Ermittler unter Leitung des beim FBI ausgebildeten Profilers und Kriminalpsychologen Thomas Müller, zunächst mit gezielten Informationen wie Desinformationen die BBA unter Stress zu setzen. Dazu gehörte der Verkauf eines von den Ermittlern verfassten Journals in allen Zeitungsläden, Tabakgeschäften und Lottoannahmestellen, wo das Spiel der BBA und das Täterprofil genauestens dargestellt wurde.

Dazu gab es einen Dauerfahndungsdruck auf die rechte Szene in Österreich, in der die Täter in beiden Fällen nach wie vor vermutet wurden. Dieser führte zu deren Umgruppierung, da bei fast allen als rechts eingestuften Personen Österreichs Hausdurchsuchungen stattfanden. Ins Visier der Fahnder rückte so auch der "Konservative Club", eine Kreis junger Rechter, die der FPÖ nahe standen und vor allem der Gründer des Clubs: Christian Böhm-Ermolli. Er und die Mitglieder des Clubs schienen viele Merkmale der bisher veröffentlichten Täterprofile sowohl für das Kunstattentat wie das BBA-Kunstspiel zu erfüllen.
Die Mitglieder des konservativen Clubs wohnten zeitweise zusammen in einer WG in der Schwarzspanierstrasse in einem Haus, in dem eines ihrer Idole, der Wiener jüdische Antisemit und Frauenhasser Otto Weininger, Selbstmord begangen hatte. Man las Fanzines wie Sigill und Bücher wie das von Wilhelm Landig Rebellen für Thule, sah Videos über den Wasserheiler und Flugkreiselkonstrukteur Viktor Schauberger, besuchte gemeinsam Raves im Wiener Technotempel Gasometer und hörte Bands wie „Death In June“. Man trug Uhren mit der schwarzen Sonne von Thule auf dem Zifferblatt und studierte am Juridicum oder in der Kunstakademie am Schillerplatz. Einige der Klubmitglieder saßen auch für die FPÖ im Wiener Gemeinderat und waren in anderen politischen Funktionen für die FPÖ tätig. Generell gab es ein Interesse für Waffen und alles Militärische, wozu auch gemeinsame Besuche bei Ernst Jünger gehörten, der eine österreichische Militärmütze überreicht bekam. Fixsterne und Idole der Clubmitglieder waren neben Ernst Jünger auch Hans-Jürgen Syberberg, Richard Wagner, Otto Weininger, Yukio Mishima, Julius Evola, Militärs der k.u.k. Monarchie und der schon kurz erwähnte Wasserheiler und einer ersten Grünen Österreichs, Viktor Schauberger. Das alles wurde gemixt mit Elementen des linken und künstlerischen Aktionismus der Professorenväter Arnulf Rainer und Peter Weibel, um den Tiger zu reiten, wie es bei Evola hieß. Das theoretische Gerüst, um all diese Elemente zu verbinden, importierte man aus Frankreich. Das Konzept einer "Neuen Rechten" adaptierte Elemente des kommunistischen Theoretikers Antonio Gramsci und wurde auch in den entsprechenden österreichischen Blättern der Rechten propagiert. Aufgabe der Intellektuellen war es demnach, im ideellen Überbau der Gesellschaft, wo die Werte und Moral geprägt wurden, einen Kulturkampf zu führen, dessen letztendliches Ziel aber nur die Revolution sein konnte.
Rainers ehemaliger Student Christian Böhm, der sich "Böhm-Ermolli" nannte, indem er den Namen eines österreichischen Feldmarschalls übernahm, war der Mittelpunkt und spiritus rector des "Konservativen Clubs“. Der war Herzstück eines von ihm angestrebten Gesamtkunstwerks aus Politik, Kunst und Militär. Nach dem Studium der Malerei bei Arnulf Rainer hatte er anschließend bei dem Medientheoretiker und Medienkünstler Peter Weibel (einem der Väter des Wiener Aktionismus und der Fluxuskunst) Medienkunst studiert, und danach seinen Abschluss als Jurist am Juridicum der Universität Wien gemacht. Unter dem Pseudonym "Theresita Threnckh" schrieb er in der Jungen Freiheit Texte u.a. über Rap und Techno. Böhm-Ermolli war ein Waffennarr, der als Wilderer mit Freunden auf die Jagd ging und sich nach dem Wehrdienst bei den österreichischen Grenztruppen während des Bosnienkriegs als Freiwilliger verdingen wollte. Aus den verschiedensten Elementen von Kunst, Wissenschaft, Waffen- und Männlichkeitskult bastelte er sich so nach und nach ein Weltbild, in dem er den Konzeptkünstler Hitler mit Techno und mit völkischer Esoterik mixte, um im Rausch der so erzeugten Droge alternative Energiefelder anzapfen zu können.
Wien und Umgebung waren für Böhm-Ermolli und seine Klubfreunde (frei nach dem Großvater des New Age Graf Arnold Keyserling, bei dem Ermolli als Student einige Zeit Gasthörer war) durchzogen von magischen und durch geomantische Linien verbundene Kraftorte. Dazu gehörten etwa der Stephansdom, die Schatzkammer der Hofburg, die Akademie am Schillerplatz, die Strudlhofstiege im Alsergrund, der Gasometer, der Heldenberg oder der berühmt-berüchtigte Ullrichsberg, wo jährlich bei einer Gedenkveranstaltung von FPÖ und Drittem Lager der Gefallenen zahlreicher europäischer Freiwilligen- und SS-Verbände aus der Zeit des Dritten Reichs gedacht wurde.

Böhm-Ermolli kannte alle in der überschaubaren rechts-konservativen und rechten Szene Österreichs: Andreas Mölzer, bei dem er eine zeitlang Assistent im Bildungswerk der FPÖ war, Dr. Hübner, einer der Granden im Hintergrund der FPÖ, bei dem er in der Anwaltskanzlei gearbeitet hatte, den General a.d. und Bundesrat Graf John Gudenus, der den Putsch von Böhm-Ermollis Konservativen Club zur Übernahme der FPÖ-Organisation des 9.Wiener Bezirks unterstützt hatte oder Jürgen Hatzenbichler, Burschenschaftler und Autor der von Mölzer herausgegebenen Wochenzeitschrift Zur Zeit. Hatzenbichler war zeitweilig auch "Synergon" im Neuen Thule-Seminar gewesen und mit dem französischen Neurechten Alain de Benoist befreundet. Kontakte gab es auch zur VAPO (Volkstreue außerparlamentarische Opposition) von Gottfried Küssel oder zu einigen der zeitweilig der BBA-Mitgliedschaft Verdächtigen wie dem Computerfachmann Gerhard Pawlikowsky ("der Ingenieur"). Zudem gab es Informationen von Journalisten über angebliche Waffentransporte nach Bosnien unter dem Deckmantel humanitärer Hilfslieferungen, an denen Böhm-Ermolli beteiligt gewesen sein sollte und über Kontakte des Clubs zu einem Sascha Kaspar, der zu zwei Jahren Haft wegen Mitgliedschaft in der VAPO verurteilt wurde und zeitweilig unter Briefbombenverdacht stand. Kaspar war dann durch den katholischen Priester Lochner, seinen Freund und Mentor, ins Priesterseminar geholt und so vor dem Haftantritt gerettet worden. Lochner praktizierte im Umfeld der Militärakademie in der Wiener Neustadt und hielt zum ersten Todestag von Böhm-Ermolli eine militärische Totenmesse, bei der auf dem mit Fahnen bedeckten Sarg ein Stahlhelm lag. Lochner war der seelsorgerische Betreuer des Kreises um Böhm-Ermolli. Irgendwann während der Endfertigung des Films erhielt ich von einem der Clubmitglieder Negative mit Aufnahmen von der besagten Totenmesse. Auf den Kontaktabzügen waren (beabsichtigt oder unbeabsichtigt) aber auch noch andere Motive. Fotos von Treffen des Clubs mit dem Priester Lochner, anscheinend in den Räumen der Militärakademie in der Wiener Neustadt. Man sah auf den Fotos ranghohe Militärs, und zahlreiche ältere Herren in bürgerlichem Outfit, vereinzelt auch ältere Damen. An den Wänden im Hintergrund waren Waffen, Gewehre und mittelalterliche Lanzen und Hellebarden zu sehen. Das war eine seltsame Mischung von Jungs, alten Herren und Waffen − augenscheinlich eine austriakische Version von Der Stern des Bundes und des Geheimen Deutschland des Stefan George in Erwartung des Pneumas.

1996 erschoss sich Christian Böhm-Ermolli, nach Aussagen seines ehemaligen Mentors Mölzer "völlig verrückt geworden, von Ecstasy zerfressen und am Ende von paranoiden Wahnvorstellungen gejagt." Böhm-Ermolli fühlte sich nach Aussagen seiner engsten Freunde von Freimaurern, Juden und IHNEN verfolgt. Schon Tage vor seinem Selbstmord habe er sich in der Wohnung in der Schwarzspanierstrasse mit scharfen Waffen verschanzt, in seinem letzten Telefonat soll er ausgerufen haben: "Um 12:00 kommen SIE!" Es blieb unklar, wer damit gemeint war. In den Tagen zuvor hatte er engsten Freunden gegenüber seine Besorgnis geäußert, die Polizei werde ihn bald wegen seiner Übereinstimmung mit den in der BBA-Affäre veröffentlichten Täterprofilen verhaften. Was daran Wahn und was Wirklichkeit war, wurde nie geklärt. Während seines letzten Telefonats mit Freunden nahm er einen Schluck Wasser in den Mund, steckte die Pistole in den Mund, und drückte ab. Das war ein altes k.u.k Offiziersritual, bei dem der Kopf in Stücke gerissen wurde. Als seine Freundin und der Sohn von Graf Gudenus Minuten später seine Wohnung betraten, war seltsamerweise die Polizei schon da. Wahrscheinlich wurde sein Telefon abgehört. Obwohl es auch in der Causa Rainer Hinweise auf eine Mittäterschaft Böhm-Ermollis gab, wurde nie in dieser Sache gegen ihn ermittelt.

Und auch meine eigenen Recherchen und Ermittlungen sowohl im Umfeld Arnulf Rainers sowie der rechten Szene drehten sich bald im Kreise. Es gab keinen Film, wo das Material und die Vorgänge mir auch im Nachhinein so rätselhaft geblieben sind, wie bei diesem. Über Wien und Österreich lag in den Tagen der Dreharbeiten eine seltsame Spannung, ein Gemisch aus Erwartung und Angst. Unvergessen ist mir ein Abend im Wiener Café Salzgries, als sich kurz vor Mitternacht dieser Druck entlud, als gleichzeitig die Handys mehrerer anwesender Journalisten klingelten, und diese nach kurzen Telefonaten aufgeregt unter Rufen wie "Es geht los! Sie haben was gefunden!" zu ihren Autos stürzten und davonrasten. Am nächsten Morgen erfuhr man: es war wieder falscher Alarm, es gab keine neuen Erkenntnisse in der BBA-Affäre. Das war ein Spiel, das Österreich paralysierte.

Am 1.Oktober 1997 wurde in Gralla bei Leibnitz an der steirisch-slowenischen Grenze der 48jährige Vermessungstechniker Franz Fuchs verhaftet. Bei seiner Festnahme zündete er eine Bombe, die ihm beide Hände abriss. Am 4. bzw. 5.Oktober gab Fuchs bei Vernehmungen zu, Mitglied der BBA zu sein, er sei aber nur Waffenmeister eines der Kampftrupps gewesen.
Am 2.Februar 1999 begann der Prozess gegen Franz Fuchs in Graz, wobei sich der Angeklagte aber dem Verfahren entzog, indem er unablässig Parolen und Nonsens-Sprüche skandierte wie: "Ausländerflut, nein danke − reinrassige Tschuschenregierung, nein danke − Antigermanismus, nein danke - Blasphemisten, nein danke − Synagogen in Österreich statt Kirchen in Israel, nein danke − Verspottung von Blondinen, nein danke − das und das, nein danke" usw. Fuchs wurde mehrmals aus dem Saal gewiesen, fuhr aber bei jeder Rückkehr fort, seine Parolen zu verkünden und wurde schließlich bis zur Urteilsverkündung vom Verfahren ausgeschlossen. Am 10.März 1999 erging folgendes Urteil gegen Franz Fuchs: lebenslänglich wegen vierfachen Mordes und Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher. Die Geschworenen waren sich einig: die BBA bestand nur aus Franz Fuchs.

Ich war mittlerweile in der Endphase des Schnitts und hatte das Prozessergebnis abwarten wollen. Bald kursierten bezüglich der Rolle von Fuchs in der Briefbombenserie zahlreiche Verschwörungstheorien. Der für die Wiener Stadtzeitung "Falter" schreibende Journalist Klaus Zellhofer war einer meiner ständigen Gesprächspartner und Informanten. Er kam ursprünglich aus dem Österreichischen Cartellverband (ÖCV), einem Dachverband von katholischen, nichtschlagenden, farbentragenden Studentenverbindungen. Dort hatte er zu Beginn der 90er Jahre auch als Chefredakteur der Zeitschrift Academia gearbeitet und galt nun durch sein Insiderwissen über die katholische wie rechte Szene bei den Mitgliedern des Konservativen Klubs und der rechten Szene als Hassfigur.
Zellhofer hatte gute Kontakte zum DÖW und brachte mich auch mit Prof. Lipold, einem Altgermanisten der Universität Wien, zusammen, der schon in den RAF-Prozessen für das deutsche BKA Text- und Schriftanalysen angefertigt hatte. Mit einer Gruppe Historiker hatte er auch die 122 Seiten Bekennerschreiben der BBA analysiert. Für ihn lag eine der Wurzeln der Briefbombengeschichte im Austrofaschismus. Sehr viele Zitate stammten seiner Meinung nach aus der Feder von Dr. Ottokar Kernstock, dem Autor der Österreichischen Bundeshymne. Hinter dem Ganzen steckten seiner Meinung nach Leute, die Zeit und Geld hatten. Es sei durch Behörden und Medien eine Hysterie um die Bombenattentate entfacht worden, und dieser Pegel werde nun gehalten. Eine Spur gehe aber auch nach Deutschland und speziell nach Bayern, nicht nur wegen der Bombe an Arabella Kiesbauer und der Widmung einer Bombe an den Neonazi Elsner, der sich in München selbst verbrannte. Elsners Name tauche auffällig oft als Absender von Briefbomben auf, bei den an den Lübecker Oberbürgermeister und Arabella Kiesbauer adressierten Bomben ebenso wie auf dem Kuvert, welches in den Händen der Flüchtlingshelferin Maria Loley explodierte. Es gebe einen alten Anspruch Österreichs auf Bayern, wichtig sei auch die Zeit des österreichischen Bürgerkriegs in den Jahren zwischen 1927 und 1934, da wurden viele Traditionslinien unterdrückt, aber auch neue tradiert. Die Bekennertexte hätten interessanterweise auch eine esoterische Grundierung; es gebe Zitate von Texten des völkisch-esoterischen Autors Jürgen Spanuth z.B. über die Illyrer, die Urbewohner Kärntens. Er habe Textanalysen aller BBA-Bekennerschreiben gemacht. Die seien alle aus einer Werkstatt, die Abweichungen minimal. Die Texte seien hochintegrativ. Er habe nun in den Leserbriefspalten der Tageszeitungen, aber auch bei kleineren Lokalzeitungen geschaut, ob da nicht verwandte Textbausteine auftauchen würden. Da habe er einen Autor gefunden, dessen Texte möglicherweise mit den BBA-Bekennerbriefen übereinstimmten. Das sei ein Spross der Familie Gasser, die viele chemische Werke und Fabriken besitze und gerade in Ungarn welche dazugekauft habe. Dieser Gasser habe über Österreichische Strategiegeschichte im Ersten Weltkrieg eine Dissertation verfasst, im Detail über Flugwesen und Militärfliegerei, daher seiner Meinung nach auch der Zugang und das Interesse zu militärischen Planspielen. Dieser Herr und zwei andere dazugehörende Personen fahren Autos in Wien, in deren Nummernschilder nach dem W für Wien die Buchstaben ON vorkommen, danach Zahlen 1 – 9. ON könnte heißen: Odin − National, oder "Ordine Nuovo". Die Gruppe betreibe ein Spiel der Destabilisierung, ein Verwirrspiel. Das Ziel sei das Verhindern von Globalisierung und Beibehaltung von Kleinstaaterei, um so bessere Geschäfte machen zu können. Das Ideologische, Antislawische und Fremdenfeindliche der BBA-Aktionen sei nur Kostüm. Die seien weder links noch rechts, sondern nur "ICH".
Ob und wie die Verbindungslinien zu Fuchs verlaufen, könne er noch nicht zweifelsfrei sagen. Er selbst sei zu den Gerichtsgutachten um Fuchs nicht mehr zu Rate gezogen worden, weil er gegenüber der STAPO eine Gruppenthese vertreten habe, die denen nicht gepasst habe. Ihm wurde gesagt: das ist für uns eine Nummer zu groß, lassen auch sie die Hände davon. Der verhaftete Vermessungsingenieur Fuchs sei nur ein Bauernopfer und in eine Falle gelaufen. Fuchs habe im Verhör gesagt, er sei ein Grüner. Viktor Schauberger und dessen Verwirbelung von Wasser habe auch eine Rolle gespielt, das wisse er von der STAPO. Mehr haben die ihm nicht gesagt. Fuchs wolle auch aus dem Gefängnis nicht raus, weil er Angst habe. Im neuesten BBA-Bekennerschreiben stand: "Fuchs Du hast die Gans gestohlen, d’rum wird Dich der Jäger holen." Er nehme an, dass Fuchs etwas ausgesagt habe, was andere belaste. Andere Ungereimtheiten seien die Kontakte von Fuchs zu einer links-anarchistische Kooperative LONGO MAI und dessen Besuche von Vorlesungen zur Geschichte Österreichs im Sommersemester 1996 an der Uni in Graz, in Begleitung eines jungen Mannes.
Das alles waren Hinweise, Details und Recherchefetzen, die in der Gegenprobe von mit dem Fall befassten Journalisten teils als möglich, teils als unwahrscheinlich eingeschätzt wurden. Es fehlte aber ein zweifelsfreier und logischer Rahmen, in den sich alle Details einfügen ließen, der mehr war wie eine interessante Hypothese.

Am 6.Januar 1998, lange nach der Verhaftung von Fuchs, ging beim Hamburger Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL ein vierseitiges Bekennerschreiben der BBA ein, das sich von den beiden an Wiener Zeitungsredaktionen geschickten Schreiben in Details unterschied. Von der Existenz des Schreibens erfuhr ich zunächst durch einen Anruf des schon erwähnten Prof. Lipold aus Wien, was sich dann durch meinen Anruf bei der Rechtsabteilung des SPIEGEL bestätigte. Die Leute im Archiv des SPIEGEL waren dann so kooperativ, mir eine Kopie des Schreibens auszuhändigen, die Prof. Lipold analysierte. Es gab demnach kleine Abweichungen im Satzbau, der Brief an den SPIEGEL war kürzer, als die in Wien an zwei Zeitungsredaktionen verschickten Versionen, hatte aber im BBA-Kopf den kleinen Punkt in der rechten oberen Ecke, ein Zeichen für die Authentizität. Allerdings stand noch ein Gutachten des BKA aus, ob es das BBA-Originalpapier war. Lipolds Analyse wies nun Textbausteine aus vorherigen Bekennerbriefen nach, die aus dem Originalspeicher des BBA-Computers stammten, der noch nicht (niemals) gefunden wurde. Allerdings wurde der Text leicht verändert. Es wurde gestrafft, korrigiert und auf zwischenzeitlich Geschehenes reagiert. Einige Tage später bekam der SPIEGEL noch ein Schreiben, was wiederum zu Spekulationen verführte.
Es gab aber auch noch eine Reihe anderer kühner Theorien, wie etwa Zusammenhänge der Briefbombenserien mit den in verschiedenen NATO-Staaten in den 1970er Jahren angelegten illegalen Waffenlagern der "Stay-behind-Organisation" GLADIO, aus denen deutsche "Naziterroristen" mit Wissen und/oder im Auftrag der Behörden den österreichischen Kameraden Sprengstoff geliefert hätten. Das war vor allem in Antifa-Kreisen ein sehr populärer Verdacht. Dem und anderem nachzugehen, hätte sowohl meine Möglichkeiten überfordert wie auch einen anderen Film verlangt.

Am 26.Februar 2000 beging Franz Fuchs in der Haftanstalt Selbstmord durch Erhängen, was von der Öffentlichkeit kommentarlos zur Kenntnis genommen wurde. Und kurz darauf war der "Fall Rainer" wie der "Fall BBA" auf einen Schlag spurlos aus den Medien verschwunden. Für mich war spätestens zu diesem Zeitpunkt die Frage: Wo sollte und musste ich den Fluss der unaufhörlichen Informationen stoppen? Wann musste ich aufhören, immer neues Material und neue Aspekte zuzulassen, zu prüfen und Hinweisen nachzugehen?
Zunächst hatte ich bei Abschluss der Vorrecherchen und Dreharbeiten das unbeschreibliche Gefühl, monatelang durch einen Irrgarten gelaufen zu sein. Besser: ein Irrenhaus. Ein Irrenhaus mit falschen und echten Linken wie Rechten, mit Journalisten, Polizisten und Juristen, mit Künstlern und Galeristen, mit Sammlern und Polizeispitzeln (zu denen überraschenderweise auch ein gestandener österreichischer Bundeskurator gehörte, der mittlerweile Direktor eines großen Museums für Gegenwartskunst in Bonn ist) gesprochen zu haben, ohne je die Wahrheit zu erfahren. Und ohne zu wissen, aber durchaus zu ahnen, dass ich im einen oder anderen Fall nur abgeschöpft oder als braver Transporteur von gefakten Informationen benutzt wurde.

Was macht man nun mit einem Mix aus Fakten einerseits und einem Sack voll von "möglicherweise", "vielleicht", "hätte", "soll", "könnte" usw.? Einen Prozess kann man damit nicht führen, eine wissenschaftliche Abhandlung schreiben auch nicht. Literatur und einen Film machen schon.
Bei der Suche im Schneideraum, für diesen Wirrwarr die genuine filmische Form zu finden, kam ich dann auf die Struktur eines Spiels mit verschiedenen Spielzügen. Dabei verstärkte sich das, was ich schon 1988 in einem Text "verstärktes Interesse für das fiktive des Mediums Dokumentarfilm" genannt hatte, ohne damals etwas von konstruktivistischer Medientheorie zu wissen. Ich war zu diesem Zeitpunkt bei meiner künstlerischen Arbeit zunehmend auf Erscheinungsformen und Zusammenhänge gestoßen, die ich mit den bis dahin verwendeten künstlerischen Mitteln nicht mehr be- und verarbeiten konnte. So kam Recherche, Dokumentation und journalistisches Handwerkszeug zu den künstlerischen Ausdrucksmitteln wie Zeichnung, Foto und Collage hinzu. Mein Interesse für das "Fiktive" dokumentarischer Mittel und Ausdrucksweisen wuchs auch in dem Maße, wie mein Zutrauen in den Umgang mit dem "Dokument" in den Medien schwand. Schon damals wurde ja unter Dokumentarfilmern, Fotografen und auch Journalisten (siehe Gonzo- und Borderlinejournalismus) angeregt diskutiert, inwieweit Fiktion, Simulation, Desinformation und Künstlichkeit in diesen Medien erlaubt oder sogar notwendig sind. Was und wem soll und kann man glauben?

Wer wars?
Ein gern gestellte Frage nach Vorführungen des Films war und ist natürlich: was glauben Sie, wer der Täter im "Fall Rainer" war? Am glaubhaftesten blieb mir die nächtliche Offenbarung einer mittlerweile verstorbenen Wiener Künstlerin und ehemaligen Assistentin Rainers. Zunächst wollte sie nicht mit mir sprechen. Sie war misstrauisch, weil Rainer mir ihre private Handynummer gegeben hatte. Wir tranken Wein und sprachen über unsere Kunst. Dann gab sie sich einen Ruck und begann zu erzählen. Sie war 1989 mit dem gleichen Flugzeug zur Eröffnung im Guggenheim-Museum nach New York geflogen, wie Rainer und sein Tross, darunter der damalige österreichische Kanzler Vranitzky. Mit dabei waren vor allem Sponsoren aus Wirtschaft und Politik die ca. 3 Mio. Schilling aufgebracht hatten, die das Guggenheim-Museum für die Ausstellung forderte. Einige Bilder der Ausstellung hatte Rainer, so die Künstlerin, verkaufen können. Dafür waeren bei der Wiedereinfuhr für die nun fehlenden Ausstellungsstücke hohe Kosten bei Zoll und Steuer angefallen. Ein Student aus Rainers Klasse an der Akademie, der auch von Rainers Galeristin vertreten wurde, war in der gleichen Maschine mitgeflogen. Es sei für mich sicher kein Problem, den Namen an Hand der Passagierliste zu ermitteln. Um Zoll und Steuern zu sparen, wurden nun vor Ort Rahmen in identischer Größe bespannt und von dem Studenten Kopien der verkauften Bilder angefertigt, um später die erforderliche Anzahl Bilder wieder nach Österreich einführen zu können. Die Bilder standen nun im Akademie-Atelier und mussten entsorgt werden. Das geschah dann durch die Übermalungsaktion. Arnulf Rainer erstattete danach Anzeige gegen Unbekannt wegen Sachbeschädigung. Dann wurde die Presse/Medien täglich mit "Täterprofilen" und Hinweisen versorgt, um das Medienkarussell in Schwung gehalten. Am Ende nutzte Rainer die unaufgeklärte Affäre, um sich im Affekt und mit Effekt in den Ruhestand zu verabschieden, der letzte Auftritt eines alternden Aktionisten.
Die Assistentin war davon überzeugt, dass der Maler auch das Bekennerschreiben verfasst und an sich selbst geschickt hatte. Wenn raus komme, was sie mir alles erzählt habe, sei sie erledigt. Die Wirkung des Weins war verflogen. Sie hatte nun Angst. „Rainer hat Sie geschickt, weil er wusste, ich würde Ihnen das alles erzählen. Er ist ein Spieler, aber ein Spieler, der das Spiel immer kontrollieren will. Sonst hätte er Ihnen nicht meine Telefonnummer gegeben.“ Sie fing an zu weinen. An diesem Punkt wurde es mir zuviel, und ich stieg aus. Das war es nicht wert. Der Kriminalkommissar im Film sagt: "Wir sind an die Kreise, in denen wir die Täter vermuteten, nicht herangekommen." So bleibt das bittere Fazit: der Meister löscht das Programm, indem er die Polizei ruft und auf Sachbeschädigung klagt. Sein Schüler Böhm-Ermolli löscht das Programm, indem er sich erschießt.

Was mir aber ungeachtet aller Verwirrspiele und von den Medien je nach Bedarf aufgeblasenen Popanze und geworfenen Nebelbomben am Ende der Arbeit am Film nachdrücklich in Erinnerung blieb, war eine ins Zwielicht geratene Moderne und eine ausgezehrte Rechte, die beide in ein schlecht gespieltes Nachhutgefecht verwickelt waren, unfähig zur Regenerierung. Der Versuch einer (angeblichen) neu-rechten Wortergreifung zeigte der Moderne ihr eigenes Zerrbild, spiegelbildlich verkehrt. Wien erschien dabei nicht mehr als Labor der Moderne, sondern vielmehr als Altenheim für sich längst verspielt habende Pensionisten der Moderne. Wien war auch nicht die Wetterecke eines neu-rechten Rollbacks, wie am Anfang des Films von Rechtsaußen herbeiphantasiert.
Die Wetterecke, wo sich das Morgen zusammenbraute, befand sich mittlerweile an anderen Orten. In meinem darauffolgenden Film DAS NETZ bin ich dem dann nachgegangen.