Herakles Konzept
Matthias Flügge
Von der Erfindung zum Dokument – das HERAKLES KONZEPT
von Lutz Dammbeck
Am Anfang war ein Märchen der Gebrüder Grimm: Das eigensinnige Kind.
Es stand nicht in den bereinigten Kinderbuchausgaben der Grimmschen Hausmärchen, mit denen wir in der DDR aufgewachsen sind. Man konnte es den Heranwachsenden offenbar nicht zumuten. Aber es war in einer 1943 in Leipzig erschienenen Ausgabe der Märchen enthalten, die im Bücherschrank der Familie Dammbeck stand.
„Es war einmal ein Kind eigensinnig und tat nicht, was seine Mutter haben wollte. Darum hatte der liebe Gott kein Wohlgefallen an ihm und ließ es krank werden, und kein Arzt konnte ihm helfen, und in kurzem lag es auf dem Totenbettchen. Als es nun ins Grab versenkt und die Erde über es hingedeckt war, so kam auf einmal sein Ärmchen wieder hervor und reichte in die Höhe, und wenn sie es hineinlegten und frische Erde darüber taten, so half das nicht, und das Ärmchen kam immer wieder heraus. Da mußte die Mutter selbst zum Grabe gehen und mit der Rute aufs Ärmchen schlagen, und wie sie das getan hatte, zog es sich hinein, und das Kind hatte nun erst Ruhe unter der Erde.“ (1)
In einem auf der Webseite zur Edition „Kunst und Macht“ erstmals veröffentlichten autobiographischen Notat (2) hat Lutz Dammbeck die frühe Idee zum „Herakles Konzept“ beschrieben: eine zuerst intellektuelle Collage von Motiven aus Texten der Grimms, Heiner Müllers und dem Hauptwerk von Peter Weiss Ästhetik des Widerstands, das bei seinem zunächst unvollständigen Erscheinen in der DDR große Resonanz fand.
Doch auch das hatte ein Vorspiel. Schon in den 1970er Jahren begann Lutz Dammbeck bildkünstlerische und filmische Elemente miteinander zu verknüpfen. Die Animationsfilme – damals nannte man sie „Trickfilme“ – mit denen er Ende der 70er schlagartig bekannt wurde, kamen im politisch unverdächtigen Gewand des “Kinderfilm“ daher. Im Osten war das eine beliebte Gattung, um philosophisch grundierte Geschichten über die Gegenwart zu erzählen.
1981 entstand HOMMAGE Á LA SARRAZ, Dammbecks erster Film, der deutsche Geschichte assoziativ als Geschichte des Mediums Films betrachtet. In diesen Arbeiten entwickelte er gleichsam die künstlerische Methode, die das „Herakles Konzept“ bis heute trägt: eine Gesamtform, in der Realität und Wahrheit wandelbare Kategorien sind, die man einkreisen aber nicht endgültig bestimmen kann und in der Geschichte und Gegenwart, Erinnerung und Zeitempfinden eng miteinander verknüpft bleiben.
Lutz Dammbecks HERAKLES KONZEPT kann man als eine Art Gesamtkunstwerk verstehen, das sich mit der condition humaine des 20. und des 21. Jahrhunderts, mit den Abgründen von Utopien und mit Gegenutopien, mit den Verquickungen von Ästhetik, Kunst und Politik, mit deren verborgenen Zielen und mehr noch mit den Strategien des Verbergens befaßt. Das Grundmotiv ist die Indienstnahme und Gestaltbarkeit des Menschen und deren Motivation in modernen gesellschaftlichen Systemen. Oder deutlicher gesagt: Die Zurichtung des Individuums im Interesse der jeweiligen Macht.
Im Jahr 2005 verlieh die Berliner Akademie der Künste den Käthe-Kollwitz-Preis 2005 an Lutz Dammbeck in Würdigung seines Gesamtwerks. Die Worte Gesamtwerk und Gesamtkunstwerk haben zwar eine semantische Nähe, bezeichnen aber unterschiedliche Dinge. Während Gesamtwerk die Summe der Arbeiten meint, die einer auf der Strecke seines Künstlerlebens gemacht hat, bedeutet Richard Wagners Prägung Gesamtkunstwerk einiges mehr. Es bezeichnet eine europäische Utopie der Moderne, einen ästhetischen Vorgriff, ein Modellspiel zwischen Eschatologie und Scheitern. Manchmal schlägt das Spiel dabei in die existientielle Katastrophe um: individuell und gesellschaftlich. Das ist Lutz Dammbecks Generalthema.
Er hat in den späten sechziger Jahren in Leipzig studiert. Nicht bei Tübke oder Heisig, sondern in der Klasse von Heinz Wagner, einem heute vergessenen Maler, der seine Schüler sich in Zwischenformen der Kunst ausprobieren ließ, weil er wohl eingesehen hatte, daß seine künstlerische Autorität nicht ausreichte, sie an ein Metier zu binden. Bei Heisig und Tübke war das anders. Sie legten ihre Schüler auf einen konservativen Malereibegriff fest, der sich heute, drei oder vier Generationen später, seiner „sozialistisch-realistischen“ Inhalte entkleidet, zu einem internationalen Marktphänomen aufgeschwungen hat. Die wahren Modernisierungsschübe in der DDR, so kann man lernen, resultierten zuweilen aus Unfähigkeit.
Für Dammbeck war diese DDR-interne Diskussion keine Frage der Form und erst recht keine der Scheinalternative zwischen Gegenstand und Abstraktion, sondern eine Frage von künstlerischer Freiheit und individueller Autonomie in der Erziehungsdiktatur. Während im Westen der späten Sechziger die Jugend nach der Schuld ihrer Eltern fragte, lebten wir noch in der Illusion kollektiver Entschuldung – zumindest im Bewußtsein, in diesem Teil Deutschlands die gerechte Strafe stellvertretend zu erleiden. Dafür war uns die Verantwortung der Nachgeborenen scheinbar abgenommen. Dammbeck hat die mentale und moralische Fäulnis dieser Konstruktion der Verantwortungslosigkeit früh gespürt. Das war eine Empfindung, die für sein Werk bis heute Folgen hat.
Die Sichtung eines elterlichen Fotoalbums aus den letzten Kriegsjahren beschreibt er folgendermaßen: „Wie intensiv will ich fragen? Was will ich wissen, was nicht? Im Gespräch verändert sich dann die die scheinbar objektive ‚Wahrheit’ der Fotos. Das ehemalige Leben, flach und tot auf Papier, verbindet sich mit meinen heutigen Gedanken, Gefühlen und dem Wissen zu einem feinen, schwebenden Gespinst, von jeder Aufzeichnung gefährdet. Für dieses Gespinst eine Form finden, ohne es zu zerstören. Sichtbar machen ….“
In diesen Sätzen ist die Substanz seiner künstlerischen Arbeit angedeutet. Was kann man wissen? Wie verändert sich Wahrheit? Und die Wörter Gespinst, Aufzeichnung, Gefährdung, Form, Wissen und Gefühl stecken gleichsam das Terrain ab, auf dem Dammbecks Werk entstanden ist.
Gespinst
Gespinst, sagt Wahrig, ist zartes Gewebe aus gesponnenen Fäden, aber auch gedrehtes Garn aus endlichen Fäden.
Ob in Filmen, Malereien, Collagen oder Medienarbeiten – immer hat Dammbeck endliche Fäden verknüpft. Solche der Wirklichkeit und solche der Fiktion. Das ist seine bevorzugte Arbeitsform: Die Herstellung von frei verwobenen, parallelen Bedeutungsnetzen ohne Zentrum. Etwas, das so ist, kann auch anders sein, die Fäden führen vor und zurück, wenn überhaupt, finden sie erst an den Rändern Halt.
Begonnen hat das mit Dammbecks Entdeckung der Filmavantgarde der zwanziger Jahre und seinen frühen Animationsfilmen, die Legendenstoffe wie den SCHNEIDER VON ULM mit Non-camera-Experimenten und Simultaneität verbanden. Walter Ruttmann und Hans Richter waren die Gewährsleute seines Ausbruchs aus der Zeitachse des Films. 1981 hat Dammbeck in HOMMAGE À LA SARRAZ ein Resümee dieser Phase gezogen, es war eine Hommage an die europäische Filmavantgarde, ein Faden, der ihn zurückband an eine in der DDR kaum vorhandene Erinnerung kinematographischer Methoden des Sichtbarmachens ohne Abbildung. Und es war schon etwas Neues.
Aufzeichnung
Seit Dammbeck fast ausschließlich Filme macht, bevorzugt er die Recherche als Kunstform. Es entstehen riesige Mengen von Rohmaterial, bei dessen Sammlung er nicht journalistisch planvoll vorgeht. Er läßt sich gleichsam assoziativ von Erfahrungen und Empfindungen leiten. Eines ergibt sich aus dem anderen, alles wird festgehalten, aufgezeichnet, um später in einem rhizomatischen Zusammenhang wieder sichtbar gemacht zu werden. Im Unterschied zum klassischen Dokumentarfilm, dient das Material nicht dem quasi objektiven Beweis einer These. Die Aufzeichnung bleibt erkennbar als Produkt des Aufzeichnenden, der, ob im Bild anwesend oder nicht, die Fäden in der Hand behält. In den Interviews läßt Dammbeck sich und seinen Partnern Zeit. Er schneidet nicht den Moment nach dem letzten Satz heraus, wenn der Befragte den Fragenden noch einmal anschaut, Bestätigung heischend, zufrieden nickend oder auch unsicher wegschauend. So wird die Aufzeichnung selbst zum Thema, die Methode bleibt durchschaubar, der Befragte erscheint zugleich als Zeuge der Möglichkeit des eigenen Irrtums. Berechenbarkeit wird auf diese Weise weithin ausgeschlossen und der Zeugnischarakter des Aufgezeichneten bleibt offen.
Form
Im Grunde ist alles, was Dammbeck macht, Collage. Wirklichkeitsfragmente, endliche Fäden, werden zusammengeführt und ergeben ihre besondere Wirklichkeit, machen sichtbar auch dann, wenn sie in den Schichtungen des Materials verschwinden. In der DDR, dem Land der Eindeutigkeiten, das selbst den großen John Heartfield lange unter Formalismus-Verdacht gestellt hatte, war das eine subversive Strategie. Dammbecks Hauptwerk der Leipziger Jahre, die Mediencollage HERAKLES KONZEPT von 1983 sollte als Film entstehen. Doch die DEFA wollte das nicht. Also entschied er, das Projekt in Realzeit als Mediencollage aufzuführen. So entstand eine wegweisende Aktion mit Mitteln der Malerei, des Tanzes, der Fotografie, mit Texten und elektronischen Medien. Das war ein im Osten noch nicht gesehener Vorgang. Bild-, Text- und Körpersprache reagierten aufeinander und visualisierten einen Konflikt, den wir damals etwas kurzschlüssig auf die DDR bezogen, der aber mehr war als immanente Systemkritik.
Das Herakles Motiv wurde durch einen Text Heiner Müllers aus den frühen siebziger Jahren angeregt. Als Hauptakteur der Mediencollage erschien das „eigensinnige Kind“ aus dem Märchen der Brüder Grimm, das seinen Autonomiewillen mit dem Leben bezahlt und noch im Grab gestraft wird. Daneben Herakles, der Held und Übermensch in Bildern von Skulpturen Brekers und Thoraks. Damals ging es noch gut aus: Das eigensinnige Kind kann sich befreien. Herakles indes muß erkennen, daß er selbst in der Hydra steckt, die zu bekämpfen er ausgezogen war, und daß sie sich längst seines Körpers bemächtigt hat. Beide Texte überlagern sich wie auf einem Palimpsest. Das Motiv der Strafe für Eigensinn und das Motiv der Vergeblichkeit und des mit ihr verbundenen Identitätsverlustes, das Verzweifelte des Gefangenseins in einem System öffneten einen Betrachtungsraum, der weitaus größer war als die Konflikte in dem kleinen Land.
In Heiner Müllers Herakles 2 oder Die Hydra lautet die zentrale Passage: „Vielleicht war er selber schon zu lange unterwegs, eine Erdzeit zu lange, und Wälder überhaupt waren nur mehr, was dieser Wald war. Vielleicht machte nur noch die Benennung einen Wald aus, und alle andern Merkmale waren schon lange zufällig und auswechselbar geworden, auch das Tier, das zu schlachten er diese vorläufig noch Wald benannte Gegebenheit durchschritt, das zu tötende Monstrum, das die Zeit in ein Exkrement im Raum verwandelt hatte, war nur noch die Benennung von etwas nicht mehr Kenntlichem mit einem Namen aus einem alten Buch. Nur er, der Unbenannte, war sich selber gleichgeblieben auf seinem langen schweißtreibenden Gang in die Schlacht. Oder war auch, was auf seinen Beinen über den zunehmend schneller tanzenden Boden ging, schon ein andrer als er. Er dachte noch darüber nach, als der Wald ihn wieder in den Griff nahm.“ Diesem Schicksal galt es zu entfliehen. 1986 ging Dammbeck mit seiner Familie in den Westen. Nun erst zeigten die unentrinnbaren Systeme ihre wirkliche Subtilität.
Zeit der Götter
Herakles, so paradox das klingen mag, ist auch ein Bild für diese ausdifferenzierten Systeme. Dammbecks Gesamtwerk könnte man, er selbst legt das nahe, als fortdauernde Arbeit am HERAKLES KONZEPT verstehen. Dennoch hat das Motiv seine Bedeutungsebenen über die Jahre mehrfach verschoben. Das Bild des äußerlich ungebrochenen, im Innern morschen autoritären Helden hat Dammbeck früher mit Skulpturen von Arno Breker assoziiert, indem er deren Abbildungen in seine Mediencollagen einbezog. Im Westen war Breker unterdessen zum herausragenden Protagonisten einer konservativen, sich als Elite verstehenden Künstlerschaft geworden. Lutz Dammbeck begann bald nach dem Mauerfall mit der Arbeit an dem Film ZEIT DER GÖTTER, der 1993 uraufgeführt wurde. Der Film ist ein Essay über die Verführbarkeit des Künstlers durch die Versprechen der Macht. Arno Breker, einst die Hoffnung der jungen deutschen Bildhauerei, geschätzt von Max Liebermann, befreundet mit Vlaminck, Cocteau und Maillol arbeitete zwischen 1936 und 1945 vor allem an der von Adolf Hitler in Gang gesetzten Vision der großdeutschen Hauptstadt „Germania“, die auf den Reißbrettern von Albert Speers Büro entstand.
Dammbeck verfolgt die Karriere des Bildhauers bis in die bundesdeutsche Gegenwart, in der er vor allem mit Porträtaufträgen überschüttet wurde. Das Nachleben der konservativen Revolution der späten 1920er Jahre im Nachkriegsdeutschland, die kulturellen und personellen Kontinuitäten vor dem Hintergrund der Demokratisierung der Deutschen sind in aller Ambiguität ins Bild gesetzt. ZEIT DER GÖTTER ist eine Mischung aus assoziativer Collage und autobiografischer Annäherung und zugleich eine Reflexion über das spannungsreiche Verhältnis von Kunst, Macht und Moral sowie die Wurzeln von rechten und faschistischen Ideologien.“ (3) Und es ist, wie fast immer in Dammbecks Werk, auch eine hintergründige Auseinandersetzung mit der abstrakten Behauptung „humanistischer Ideale“ in der Kunst, speziell in der figürlichen Tradition der deutschen Bildhauerei.
Dürers Erben
Der zweite Schritt in die deutsche Herakles-Höhle des machtgestützten Realismus erschien schon zwei Jahre später. Dammbeck drehte DÜRERS ERBEN als eine Erinnerung an den Ort der eigenen künstlerischen Ausbildung. Die Leipziger Hochschule für Graphik und Buchkunst war in den 1950er Jahren so etwas wie ein Experimentierfeld zur Ausbildung einer betont deutschen Variante des „sozialistischen Realismus“, ein früher Versuch, im Osten ein „DDR-Nationalgefühl“ zu implementieren – auch als Differenzbehauptung zu den bis dato kanonisierten sowjetischen Vorbildern. Vor allem Albrecht Dürer musste als Gewährsmann des Kampfes gegen den westlichen „Formalismus“ herhalten. Die Maler Heisig und Tübke waren daran beteiligt, standen aber noch im Schatten des damals hoch gefeierten Heinrich Witz, einem minderen Talent, auf dem die Hoffnungen der Kulturfunktionäre ruhten. Dammbeck verfolgt die wesentlich von Alfred Kurella, beförderten Bestrebungen zurück an die Quellen der national gestimmten Reformbewegung nach der Wende zum 20. Jahrhundert. Kurella, seinerzeit im ZK der SED für Kultur verantwortlich, empfing in der naturverbundenen, spätromantischen und technikfeindlichen Bewegung die bestimmenden Impulse seiner Jugend.
Der Film ist Dammbecks Abrechnung mit der DDR. Er handelt auch von der politischen Ohnmacht der Künstler in einem Staat der Allgegenwart erstarrter Politik. Und er zeigt die historische Ambivalenz von Moderne und Antimoderne, die Nähe von idealistischen Freiheitsideen und totalitärem Gedankengut am Beispiel der Wege einiger Protagonisten, die wenig später in die Alternative von Faschismus oder Kommunismus führten. Er zeigt auch, wie Manipulation und kollektive Bildanbetung den Autonomieverlust des Bildes und des Menschen erzeugen. Ein Rollentausch findet statt: Das Bild weist nicht mehr Herakles vor, es ist nun selbst zur Hydra geworden.
Das Meisterspiel
Immer kreisen Dammbecks Filme um die Pole „rechts“ und „links“, so nahe beieinander sie auch liegen mögen. So auch in DAS MEISTERSPIEL (1998). Nachdem 1994 Unbekannte in Wien Bilder des Malers Arnulf Rainer übermalt hatten, hinterließen sie eine Schrifttafel mit der Aufschrift „Und da beschloß er, Aktionist zu sein.“ Die Ironie der Aktion bestand darin, dass Rainer selbst mit Übermalungen berühmt geworden war. Waren es Neider? War es Studentenulk? Bald darauf wurde ein Bekennerschreiben lanciert. Dammbeck erhielt eine Kopie, als er bei der Endfertigung zu DÜRERS ERBEN war und erkannte, dass hier ein Stoff vorlag, der an die beiden vorhergehenden Filme anschloß. Das Bekennerschreiben war ein wüster Angriff auf die zeitgenössische Kunst und verstieg sich zu der Behauptung, Künstler wie Rainer seien die eigentlichen Nutznießer des Nationalsozialismus, mit dessen Untergang auch die wahren Werte der Kunst verschwunden seien. Die Untat in Rainers Atelier sollte zu einem Akt der Rettung der Kultur umgedeutet werden. Die Nähe zu dem Hitler-Zitat, „Ich aber beschloß, Politiker zu werden“, fällt Dammbeck auf und mit ihr die Frage: Was bedeutet die semantische Nähe?
Er macht sich auf die Suche, taucht tief ein in das austriakische nationalkonservative Milieu, findet bei der FPÖ und in Deutschland unter gewendeten Altlinken Exponenten dieser Ideologie, die sich anschicken, den grassierenden Neonazibewegungen ein intellektuelles Fundament zu errichten. Vor der Kamera sprechen sie offen über ihre antimodernen Affekte, über die „Entsittlichung“ der Kulturbegriffe, den Verfall durch Multikulturalität und dergleichen. Und Dammbeck findet Zugang zu akademischen Jugendkreisen, die zu Ernst Jünger pilgern, von einer „Moderne von rechts“ träumen und von einem neuen Kunstbegriff, der Politik, Ästhetik und Gefühl in eins setzt. Einer von denen hat sich im Haus von Otto Weininger nach einem k.-k.-Offiziersritual erschossen, nun ist er ein Märtyrer der Bewegung. Dann die jähe Wendung: Briefbombenattentate erschüttern die Republik, bei einem Sprengstoffanschlag in einem kleinen österreichischen Ort werden vier Roma getötet. Wieder gibt es einen Bekennertext, einen, der strukturelle Ähnlichkeiten mit dem des Kunst-Attentäters aufweist.
Der Weg des Filmemachers im Labyrinth der alten Rechts-Links-Schemata führt bis zu jenem Punkt, wo sie sich im Zirkelschluß von Gewalt und Terror begegnen. Hier nun lösen sich die Spuren im Diffusen auf, Dammbeck stilisiert sich als Sucher und Flaneur, und es zieht sich eine bedrückende Atmosphäre der Mutmaßungen durch den Film. Die vielen Befragten, Zeugen, Polizisten und Exegeten, sind nur Figuren in diesem Meisterspiel, dessen Regelwerk Geheimnis bleibt. Vor allem: Wer ist der Meister? Die Moderne hat der Rationalität nicht zum Durchbruch verholfen, die Etiketten des Gutlinken und Rechtsbösen bezeichnen nichts mehr, das virulente Gebräu aus Fremdenhaß, Selbsthaß, Kunsthaß und dumpfer Aggression läßt für Momente Unglaubliches möglich erscheinen. Und Rainer, der Künstler, wird in diesen Strudel hineingezogen, es ist ein Spiel, an dem er nicht teilnehmen will - aber mittlerweile spielt es auch ihn. Längst ist im Schatten des religiös motivierten Terrorismus ein Terror des Nihilismus entstanden, der aus der Mitte der Zivilgesellschaft kommt und sich quasi-künstlerischer Strategien bedient. Die alte Utopie der Avantgarde, die Verbindung von Kunst und Leben, beginnt sich gegen das Leben zu kehren. Das surrealistische Gedankenspiel – man denkt an André Bretons Satz, die einfachste surrealistische Handlung sei, auf offener Strasse einen Menschen zu erschießen – verkehrt sich in Wirklichkeit. Das war lange vor dem 11. September 2001.
Das Netz
Wenn Dammbeck die Kunst als Modell gesellschaftlicher Ernstfälle untersucht und den Einsatz künstlerischer Methoden zur Auratisierung militärischer oder machtpolitischer Interessen beschreibt, so geschieht das in einer ihm eigenen, die Grenzen verwischenden Verbindung von Recherche und Intuition. Genau das werfen seine Kritiker ihm vor. Aber Dammbecks Filme sind keine Dokumentationen im Detail beweisbarer Vorgänge. Sie sind auch keine auf Insinuation gegründeten Bewußtseinssteuerungen durch ausgewählte Wirklichkeitsrelikte wie die Filme von Michael Moore. Sie sind vielmehr Versuchsanordnungen gesellschaftlicher Situationen, die Dammbeck als Systeme begreift, welche sich vor allem durch ihre Unentrinnbarkeit auszeichnen.
Die jüngste Arbeit DAS NETZ ist in dieser Hinsicht Lutz Dammbecks avanciertester Film. Er untersucht die im kalten Krieg entstandenen Verbindungen zwischen Wissenschaftselite, Kunstavantgarde, Geheimdiensten, Drogenforschung und militärindustriellem Komplex bei der Schaffung eines „antiautoritären Menschen nach Maß“, der gegen die Versuchungen des Totalitarismus zu immunisieren und auf den American way of life im Wortsinn zu programmieren sei. Kybernetik, Nachrichtentechnologie, Psychologie und experimentelle Kunst aus der Mitte der lebensreformerischen Hippie-Bewegung arbeiteten dabei eng zusammen. An diesen Schnittstellen rückgekoppelter Systeme entstanden die Visionen und bald darauf die Realität von Internet und Cyberspace.
Es ging damals, an den Ursprüngen des „Netzes“, um die Formbarkeit des Menschen, konkret um die Utopie des befreiten, Ideologien gegen Konsum einwechselnden Individuums, dessen Körper und Geist durch Wissenschaft gesunden, dessen Bewußtsein durch Drogen von Tabus und Denkschranken erlöst und dessen kommunikative Fähigkeiten durch Computer und Netzwerke grenzenlos erweitert werden könnten. Einerseits waren diese Impulse, die ganz wesentlich auch von deutschen Emigranten ausgingen, den Erfahrungen des Nationalsozialismus und seiner Gleichschaltungsideologie geschuldet, andererseits dienten sie als psychologische aber auch ganz reale Waffen im kalten Krieg gegen die ideologischen Projektionen der kommunistischen Weltrevolution.
Dammbeck ist komplizierten und keineswegs eindeutigen Zusammenhängen auf der Spur. In diesem gewaltigen Programm der Re-Education sollten alle kreativen Potentiale des Menschen freigesetzt werden – vor allem auch die der Kunst. Kybernetik und Systemtheorie, die frühen Formen von digitalen Netzen, ihre Herkunft aus militärischen Forschungsanlässen und die widersprüchlichen philosophischen Quellen im amerikanischen Transzendentalismus Thoreaus und anderer werden zitiert. Technologischer Fortschritt, die utopischen Symbiosen von Mensch und Maschine und nicht zuletzt ein damals erst in Umrissen erkennbarer Markt, der aus den militärisch motivierten Großrechnern den PC für jedermann zu entwickeln begann, projizierten die Idealbilder einer Demokratisierung der Welt als die wohl die bislang letzte große Utopie der Menschen, auch und gerade als der Sozialismus schon gescheitert war.
Mit dieser Utopie korrespondierte die künstlerische Avantgarde der Zeit, die mit technischen Medien, Bewußtseinserweiterungen und Systemmodellen ein letztes Mal die seither nicht mehr existierenden sogenannten „Grenzen“ der Kunst übersprang.
Dammbecks Interviews mit Künstlern und Kritikern, mit Hans Haacke, Howard Klein und anderen, mit honorigen Wissenschaftlern und schillernden Abenteurern der neuen Ideen, die aus Hippiebewegung, Musik und psychedelischer Kunst dazustießen, zeigen die Komplexität und die damalige Offenheit der Vorgänge – die, wie noch jede Revolution, auch Spuren in blutigen Terror legte.
Protagonist, Opfer und Täter dieser Entwicklung ist der hochbegabte Mathematiker Ted Kaczynski, in jungen Jahren CIA-Versuchsperson, dann Berkeley-Professor und schließlich Eremit in einer Thoreauschen Hütte in Montana, aus der er Briefbomben an Personen der akademischen und der Computerelite versendet, um die Veröffentlichung seines radikal zivilisationskritischen Manifestes Die industrielle Gesellschaft und ihre Zukunft zu erpressen. Als New York Times und Washington Post nachgaben und den Text druckten, wurde Kaczynski an seiner Diktion erkannt. Seither sitzt er lebenslänglich im Gefängnis. Dammbeck korrespondiert mit dem Häftling, dessen Texte sind Zeugnisse eines gewaltbereiten Anarchismus, der sich als Selbstverteidigung gegen die technisch und ökonomisch bestimmte Welt versteht.
Hier schließt sich der Kreis zu Müllers Herakles, der Hydra und dem Wald. Wer ist Kaczynski in diesem Modell? Der verirrte Herakles, der dem System nicht entkommen kann, sosehr er es bekämpft? Oder doch die Hydra? Wer oder was aber wäre dann Herakles? Dammbeck läßt die Fragen ebenso eindringlich offen, wie er sie stellt. Das ist das Schmerzhafte, manchmal geradezu Grauenerzeugende an seinen Arbeiten. Gibt es eine Möglichkeit, die globalisierte Welt durchschaubarer zu machen – ohne Gewalt? Wie kann der einzelne seine Autonomie behaupten, ohne durch die Teilhabe an moderner Technologie zugleich deren Gefangener zu werden? Sind künstlerisch-ästhetische Systeme als Modelle befreiten Lebens überhaupt noch denk- und lesbar – oder stehen sie längst im Dienst ganz anderer Interessen? Können wir ohne Utopien fortexistieren – und sind solche in Kunst und Gesellschaft denkbar, ohne in neue totalitäre Formen zu münden?
Kaum ein anderer Künstler der Gegenwart hat diese Fragen so beständig und so souverän auf dem Grat zwischen Dokument und Fiktion, Kunst und Technologie, Analyse und Intuition an behandelt.
Lutz Dammbecks Filme haben unsere Vorstellung davon, was das Politische in der Kunst sein könnte, verändert.
1) Das eigensinnige Kind. In: Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grim. Jubilaeums-Gesamtausgabe. Leipzig: Richter, Schmidt & Günther 1943
2) Der Wald. Kommentartext zum gleichnamigen Video auf der Webseite www.herakleskonzept.de
3) Lutz Dammbeck: Re-Re-Education. Filme 1979 – 2003. Kat. Sprengel Museum Hannover. Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König 2010, unpag.