Re-Reeducation

Lutz Dammbeck
Allein in die Schlacht gegen die Verkünstlichung der Welt

1975 erschien in den USA das Buch The Monkey Wrench Gang von Edward Abbey, in dem ein obskures Quartett durch Amerikas Westen irrte, um Maschinen zu sabotieren, welche die unberührte Natur zerstörten. Abbeys Buch war bald eine Bibel für die Stämme von »Öko-Kriegerinnen und Kriegern«, die sich in den USA in den 1970er Jahren formierten und für die Verteidigung der Natur und gegen die Umweltzerstörung durch den technischen und wissenschaftlichen Fortschritt kämpften. 1979 bildete sich aus diesem Umfeld die Gruppe »Earth First!«, eine öko-anarcho-terroristische Vereinigung,
die auch militante Anschläge durchführte. Earth First! gab eine Zeitschrift heraus, das Earth First! Journal, in dem auch Listen von Umweltsündern als potenzielle Anschlagsziele veröffentlicht wurden. Einer der Leser von Earth First! war Ted Kaczynski, ein ehemaliger Mathematikprofessor aus Berkeley.
1958 hatte der 16-jährige Sohn polnischer Einwanderer mit einem IQ von 170 das Studium der Mathematik an der Harvard-Universität begonnen. Nach dem Abschluss in Harvard nahm er ein Zusatzstudium an der Universität von Michigan auf, wo seine Doktorarbeit über »Grenzfunktionen« 1967 als beste Abschlussarbeit der mathematischen Fakultät ausgezeichnet wurde. Im gleichen Jahr wurde er Assistenzprofessor am Department of Mathematics in Berkeley und entwickelte erste Pläne für ein Leben in den Wäldern abseits der Zivilisation. 1969 kündigte er seine Professur und pachtete mit seinem Bruder David ein kleines Landstück außerhalb des Dorfes Lincoln in Montana.
Dort baute er sich eine Hütte, die detailgetreu der Hütte Henry David Thoreaus am Walden-See nachempfunden war. Wie sein Vorbild Thoreau suchte er in der Wildnis Montanas nach einem autonomen Leben im Einklang mit der Natur, das er auf über 24.000 Tagebuchseiten akribisch protokollierte. Er schrieb auch einige Texte zu Themen wie Technologie und Freiheit, die er an Zeitungen in Chicago und an überregionale Magazine schickte. Keiner der Texte wurde veröffentlicht.

1996 wurde Ted Kaczynski in seiner Hütte als der sogenannte »Unabomber« (university and airline bomber) verhaftet, den das FBI für 16 Bombenanschläge verantwortlich machte, die zwischen Mai 1978 und April 1995 die USA erschütterten. Anschlagsziele waren u. a. Manager großer Fluggesellschaften und Wissenschaftler verschiedener Eliteuniversitäten. Drei Menschen wurden getötet und 23 zum Teil schwer verletzt. Das FBI hielt Ted Kaczynski auch für den Autor eines Manifests mit dem Titel Industrial Society and Its Future (1), in dem eine bis dahin unbekannte Gruppe von Anarchisten mit dem Kürzel »FC« (Freedom Club) der »technologischen Gesellschaft« den Krieg erklärt hatte.
War die Geisterarmee von FC die Vervielfältigung eines Einzelnen nach dem Muster der Monkey Wrench Gang?
1996 wurde Ted Kaczynski in Sacramento wegen dreifachen Mordes angeklagt und am 4. Mai 1998 nach einem »plea bargain«(2) zu viermal lebenslänglich und zusätzlich 30 Jahren Zuchthaus verurteilt, unter Ausschluss der Möglichkeit auf Begnadigung.

Ich stieß auf Ted Kaczynski, als ich 2001 mit den Recherchen für meinen Dokumentarfilm Das Netz (3) begann. Ich interessierte mich für die Anfänge des Internet, die Entwicklung von Computern und für eine Wissenschaft, die die Welt als »offenes System« begriff und deren Botschaft war: Alles ist möglich, Realität ist beliebig veränderbar. Du bist, was du sein willst!
Die Namen Ted Kaczynski und Unabomber fielen erstmals im Gespräch mit dem Verleger John Brockman, einem Veteranen der New Yorker Multimediaszene um Jonas Mekas und Andy Warhol, der später die Bücher von Pionieren der Computer- und Biowissenschaft wie Stewart Brand, Bill Joy oder Ray Kurzweil verlegte und diese zu weltweit bekannten Stars des science business machte. Einer seiner Klienten, der Computerwissenschaftler David Gelernter, wurde Opfer eines Anschlags des Unabombers und verlor dabei ein Auge und die rechte Hand. Ted Kaczynski war, wie die anderen Wissenschaftler, Ingenieure und Künstler, mit denen ich für den Film sprach, Ende der 1960er Jahre zunächst
auch Teil jener Elite, mit deren Hilfe die Fundamente der Moderne mit Kybernetik, Systemtheorie, Multimediakunst und den ersten Computernetzwerken neu gesetzt wurden.
Warum stieg er aus, ging in die Wälder Montanas und begann dort seinen Krieg gegen eine wissenschaftlich-technologisch fundierte Moderne? Was trieb ihn zu seiner radikalen Kulturkritik an deren Mix aus Medien, Computern, Ideen des Konstruktivismus, Macht des Kapitals und Experimenten der Bewusstseins- und Verhaltensforschung?
Ich schrieb Ted Kaczynski einen Brief, auf den er mir nach einiger Zeit antwortete. Zu meiner Überraschung tat er das in deutscher Sprache. Und so entwickelte sich zwischen 2001 und 2006 ein Briefwechsel, der hier auszugsweise wiedergegeben wird.

Florence, Mai 2002 | Sehr geehrter Herr Dammbeck,
vielen Dank für Ihre Fragen, die ich versuchen werde zu beantworten. Ich nutze diese Gelegenheit, um meine Kenntnisse der deutschen Sprache zu verbessern. Ich bin kein Wissenschaftler. Vor dreißig Jahren war ich Mathematiker, aber ich habe den größten Teil von dem, was ich über die Mathematik wusste, vergessen. Ich meine, dass Utopien wahnsinnig und gefährlich sind, besonders die von einer technologischen Gesellschaft.
Die Technologie ist eine ganz eigenwillige und äußerst gefährliche Macht, die uns dahin führt, wohin sie uns führen muss. Das wird weder durch den Zufall noch die Willkür arroganter Bürokraten, Politiker oder Wissenschaftler bestimmt, sondern das technologische System muss einfach menschliches Verhalten seinen eigenen Erfordernissen anpassen. Das ist notwendig, damit es funktionieren und sich immer weiter ausdehnen kann. Sicher, moralische Urteile beruhen nicht auf Tatsachen, sie sind willkürlich.
Aber wenn Sie mein Urteil hören wollen: Jeder Wissenschaftler, der in einem offensichtlich gefährlichen Gebiet arbeitet (zum Beispiel in der Computerwissenschaft oder der Biotechnologie, dem gefährlichsten und schrecklichsten Teil der modernen Wissenschaft), ist ein Verbrecher der schlechtesten Art. Selbst Hitler oder Stalin wären über einige der neuesten Forschungen entsetzt, denn weder Hitler noch Stalin haben sich so
etwas Gefährliches und Schreckliches vorstellen können.
Hochachtungsvoll, TK

Hamburg, Juni 2002 | Sehr geehrter Herr Kaczynski,
ich finde Ihre Bemerkung, dass der Begriff einer Utopie »wahnsinnig und gefährlich« sei, interessant und fragwürdig zugleich. Es gibt doch auch positive Utopien. Ich kann mir schwer vorstellen, wie Menschen ohne Utopien (oder Ideale) leben können. Allerdings ist die Hoffnung, dass Wissenschaft und Technologie neue Ideale und Utopien (die Globalisierung) hervorbringen werden, wohl inzwischen obsolet. Wie auch die Hoffnung, dass die Wissenschaft an die Stelle der Religion treten kann. Aber wie soll die entstandene Leerstelle besetzt werden? Was könnte NACH der »technologisch-wissenschaftlichen Gesellschaft« kommen? Mit welchen Bausteinen der bisher bekannten Spielarten von Moral, Philosophie, Kunst und Wissenschaft sollte es dann weitergehen?
Ist die Wissenschaft für dieses DANACH generell verzichtbar? Und was ist mit der Frage der Gewalt, die nötig wäre, um das durchzusetzen? Künstler haben in Texten, Filmen, Kunstwerken aller Art immer auch Gewalt propagiert, meist als ästhetische Geste. Es galt dafür die Konvention, niemals die Grenze zwischen IMAGINATION und TAT zu überschreiten. Eine Grenzüberschreitung wurde und wird bestraft. Und, wie ich finde, zu Recht.
Hochachtungsvoll, Ihr LD

Florence, Juli 2002 | Sehr geehrter Herr Dammbeck,
in Ihrem letzten Brief haben Sie mir so viele Fragen gestellt, dass ich hier nicht alle beantworten kann. Sie deuten an, dass das wirkliche Problem nicht die Technologie sei, sondern die Globalisierung (des Kapitalismus). Aber was meinen Sie mit dem Wort »Globalisierung«? Sie verwenden es so, als ob Globalisierung und Technologie identisch wären. Zum Beispiel schreiben Sie, dass »durch diese Globalisierung die Natur immer mehr zerstört wird«. Aber die
Technologie bedarf nicht der Globalisierung, um die Natur zu zerstören. Die Technologie hat schon vor sehr langer Zeit angefangen, die Erde zu zerstören, und würde damit fortfahren, selbst wenn das nicht global, sondern
in jedem Land der Erde isoliert voneinander geschehen würde. Die Globalisierung beschleunigt ein wenig den Zerstörungsprozess, aber das ist alles. Als ich Ihnen schrieb, dass der Begriff einer Utopie wahnsinnig und gefährlich ist, meinte ich nicht, dass alle Ideale wahnsinnig und gefährlich sind. Wahnsinnig und gefährlich ist aber der Glaube, dass man eine Gesellschaft nach einem bestimmten idealen Muster erschaffen könnte. Sie haben zweifellos Ihre eigenen Vorstellungen von einer Utopie. Ein anderer Mensch hat andere Vorstellungen, die sehr verschieden von den Ihrigen sein können. Vielleicht wäre seine Utopie für Sie eine Hölle, wie die Ihrige ebenso für ihn. Würde es Ihnen gefallen, dass er Ihnen seine Utopie aufzwingt? Haben Sie das Recht, ihm Ihre Utopie aufzuzwingen?
Ihr ergebener TK

Hamburg, August 2002 | Sehr geehrter Herr Kaczynski,
Sie betonen die ausschließliche Bedeutung der »bösen« Technologie. Aber kann man Wissenschaft und Technologie getrennt voneinander reflektieren, eingeteilt in »gute« Wissenschaft und »böse« Technologie? Die Technologie ist doch nur die Materialisierung wissenschaftlicher Ideen in Form von Werkzeugen? Mit anderen Worten: Wenn etwas schiefläuft, ist dann nicht eher die Wissenschaft »schuldig« oder die Weltbilder, die ihr zugrunde liegen? Und die Technologie eher dafür »unschuldig«? Wie ein Kind, dem nur der rechte Weg gewiesen werden müsste? Zum Beispiel hin zu erneuerbaren und die natürlichen Systeme kopierenden Umwelttechnologien, die verbrauchte Energie in einem Kreislaufsystem wieder regenerieren? Sie haben zweifellos recht mit der »Hölle der Utopie«. Wie wehrt man sich aber gegen den Zwang, daran teilzunehmen? Nehmen wir an, Sie nehmen sich das Recht, gewaltsam gegen solchen Zwang vorzugehen. Aber ist das dann nicht selbst ein Zwang gegen andere, der Ihre eigenen (guten) Absichten aufhebt? Und: wer ist Ihrer Meinung nach generell berechtigt, das »Recht« zu setzen?
Hochachtungsvoll, Ihr LD

Florence, August 2002 | Sehr geehrter Herr Dammbeck,
natürlich können wir nicht wissen, auf welchen Elementen und Bausteinen der bisher üblichen Formen von Moral, Philosophie, Kunst und Wissenschaft wir die der »technologischen Gesellschaft« nachfolgende Gesellschaft aufbauen können. Wenn alle moderne Technologie abgeschafft ist, wissen wir nur, dass es keine Biotechnologie, keine Computer, keine Atombomben usw. mehr gibt. Bleiben wir bei dem, was praktisch und konkret ist: Gefiele es Ihnen, wenn die Menschen in einer virtuellen Welt lebten? Dass Maschinen klüger sind als Menschen? Dass die Menschen deshalb nutzlos und überflüssig würden? Wenn Ihnen das nicht gefällt, ist für Sie die Computerwissenschaft offensichtlich gefährlich. Weiter, gefiele es Ihnen, dass Menschen, Tiere und Pflanzen zukünftig Produkte von Technologie sind? Wenn Ihnen das nicht gefällt, dann ist für Sie die Biowissenschaft offensichtlich gefährlich. Das ist sehr einfach und hat keine
Beziehung zur Moral, dem Satz von Gödel (4) oder anderen abstrakten philosophischen Fragen. Als die Indianer von Nordamerika die eindringenden Europäer angriffen, als sich die schwarzen Sklaven gegen ihre weißen Herren auflehnten, als die Juden des Ghettos von Warschau die deutschen Soldaten bekämpften: Glauben Sie, dass sie sich fragten, durch wen ihr Einsatz von Gewalt legitimiert würde, wer die Grenzen dafür setzen würde oder wer diese Grenzüberschreitung erlauben würde?
Hochachtungsvoll, TK

Hamburg, September 2002 | Sehr geehrter Herr Kaczynski,
in §184 des Manifesto5 steht: »... es ist nicht nötig, eine besondere Art von sozialem System zu schaffen; es reicht, sich von der industriellen Gesellschaft zu befreien.« Wie viel Technologie soll / darf / muss danach erhalten bleiben? Und wer soll das entscheiden? Ein »genialer Einzelner« oder demokratisch gewählte Gremien? Also noch mal:
Wer setzt dafür die Grenzen und bestimmt die Regeln für Ihre nach-technologische Gesellschaft? Zur Frage des Einsatzes von Gewalt: Bei den von Ihnen genannten Beispielen haben Sie recht. Der damalige Einsatz von Gewalt war legitimiert, da vorher Gewalt das Recht verletzt hatte. Aber wie verhält es sich bei der Konfrontation von individueller und staatlicher Rechtsauffassung heute? Im Falle der deutschen Terroristen der RAF (Rote Armee Fraktion) versuchten die Akteure durch ihre Anwälte den Status von Combattanten zu erhalten, d.h. sich als politische Kämpfer im Kriegszustand zu definieren. In einem Krieg, in dem auf der einen Seite der »Imperialismus des internationalen Kapitals und seine Agenten« und auf der anderen Seite »die den proletarischen Internationalismus praktizierenden Befreiungsbewegungen« standen. Deshalb, so argumentierten die RAF und ihre Anwälte, müssten die Kämpfer der RAF als Kriegsgefangene nach den Regeln der Genfer Konvention behandelt werden, als ein »Völkerrechtssubjekt«. Das wurde von der damaligen deutschen Regierung aber nicht anerkannt und die RAF als »kriminelle Vereinigung« verurteilt. Sehen Sie Ihren Fall ähnlich, sehen Sie sich als politischen Gefangenen?
Hochachtungsvoll, LD

Florence, Dezember 2002 | Sehr geehrter Herr Dammbeck,
als ich jung und naiv war, befürchtete ich, dass die Technologie eine völlig geordnete, regelmäßige und vollkommene Welt schaffen würde. Heute meine ich, dass solch ein Ergebnis unwahrscheinlich ist. Aber der Grund für meinen Meinungswandel ist keineswegs der Satz von Gödel, sondern die Unberechenbarkeit des Verhaltens offener und komplexer Systeme. Die Folgen irgendeiner in ein solches System eingeführten Veränderung sind unabsehbar. Ich vermute daher, dass die Versuche, mit Hilfe der Technologie die Natur zu regeln, immer schwerwiegendere Folgen haben, die bald zum Zusammenbruch des technologischen Systems führen werden. Aber man sollte den Sturz dieses Systems so bald wie möglich herbeiführen, denn je mehr sich das System ausdehnt, um so katastrophalere Folgen wird sein Zusammenbruch haben. Sie erwähnen die Idee, dass der Technologie nur der rechte Weg gewiesen werden müsste. Das heißt, dass die Technologie nur »richtig« und nicht »falsch« eingesetzt werden müsste. Aber stimmten wir nicht überein, dass man die Entwicklung einer Gesellschaft nicht vernünftig lenken kann? Wie kann man dann sicherstellen, dass diese Gesellschaft die Technologie nur »richtig« und nicht »falsch« einsetzt? Wenn Sie etwas Praktikables erfinden, durch das man das sicherstellen kann, kündigen Sie es bitte öffentlich an, und Sie werden die ganze Welt erstaunen. Bezug nehmend auf die Frage von »Utopien« fragen Sie: »Wie wehrt man sich gegen den Zwang, an der Realisierung irgendwelcher Utopien teilnehmen zu müssen? Wer gibt mir das Recht, gewaltsam dagegen vorzugehen?« Ich denke, der Einsatz von Gewalt, zum Beispiel gegen die Realisierung der Utopie von einer technologischen Gesellschaft, ist nur Selbstverteidigung. Natürlich kann man das bestreiten. Wenn Sie glauben, das ist unsittlich oder unmoralisch, dann setzen Sie eben keine Gewalt ein. Dazu stelle ich Ihnen eine Frage. Welche Art von Gewalt hat mehr »Harm« oder »Kummer« in der Menschheitsgeschichte verursacht:
die Gewalt, die vom Staat genehmigt wurde? Oder die Gewalt, die von Einzelnen ungenehmigt angewendet wurde? Weiter fragen Sie: »Wer ist berechtigt, das Recht zu setzen?« Ich behaupte, dass niemand berechtigt ist, das Recht zu setzen. In den zivilisierten Gesellschaften nimmt man gewöhnlich an, dass der Staat das Recht festsetzt. In den nicht-zivilisierten Gesellschaften setzen Bräuche oder Gewohnheiten das Recht fest. Wenn man das durch den Staat und die Bräuche festgesetzte Recht ablehnt und dagegen vorgeht, heißt das REVOLUTION. Natürlich werden Sie dazu von niemandem berechtigt. Wenn Sie glauben, dass das unmoralisch ist, nehmen Sie an keiner Revolution teil. Aber die Revolution ist das einzige Mittel, mit dem man dem technologischen System Widerstand leisten kann.
Ihr ergebener TK

Mein Briefwechsel mit TK endete im Jahr 2006, drei Jahre nach Fertigstellung des Films. Zuvor hatte er mir noch die in einem seiner Briefe angekündigte »authentische« Fassung des Manifesto geschickt (6), die erstaunlicherweise die strengen Kontrollen des Hochsicherheitsgefängnisses von Florence passieren konnte. Mit TK und dem Autor des Manifesto auf der einen Seite und den Designern einer Welt als »offenem System« auf der anderen Seite standen sich schließlich am Ende meines Films zwei diametral verschiedene Weltheilungsversuche gegenüber; beide gleichermaßen aus der Angst wie der Hybris ihrer Akteure geboren. »Bei den Vertretern der open society im Film – eine Mauer des Schweigens. Dagegen stand ein gescheiterter Einzelner, der sich von allen Nachbarn und Nahestehenden absonderte, aber vor allem zur Sprache kommen wollte.« (7)

Ted Kaczynskis Briefe wirkten auf mich wie der Versuch einer Sprachfindung an den Grenzen des Wissens, einer Sprachfindung auf unsicherem Terrain: auf der Suche nach der »Verortung« in einer »ortlos« gewordenen Welt und der Übersteigerung des eigenen »Ich« in einer das Subjekt in viele »Ichs« und Identitäten auflösenden Gesellschaft.
Wenn die künstlichen Welten des Einzelnen keinen Ort mehr in der realen Welt finden, wenn sich deren Realität zudem in einem grenzenlosen Raum aus Mathematik und Logik in abstrakte Formeln und Strukturen aufgelöst hat, droht Kreativität in Destruktion umzuschlagen und in die Selbstermächtigung zur Anwendung von Gewalt überzugehen.
Der Versuch Ted Kaczynskis, unsichtbare oder verborgene Bereiche in entlegenen Wäldern zu schaffen, die sich dem Zugriff dieses »offenen Systems« in Form einer Konsum-, Informations- und Kontrollgesellschaft entzogen, war allerdings romantisch und naiv. Denn in diesem Szenario existierte kein »draußen« mehr, von dem »das System« bekämpft werden konnte; ein System, das jeden Angriff und jeden Störversuch umgehend in Energie für seine weitere Perfektionierung verwandeln konnte. (8)

Sein Versuch einer Systemstörung wurde zudem vom FBI und den amerikanischen Medien umgehend zum reinen Kriminalfall ohne jede politische Bedeutung erklärt und Kaczynski als paranoider sickie ausgefiltert. Das führte bald zum Abflauen der anfänglichen Faszination und Unterstützung durch Teile der linksliberalen Intelligenzija und Cyberelite, deren Sympathien Kevin Kelly 1995 in Wired wie folgt formuliert hatte: »Dieser Typ ist ein Freak, einer von uns. Das [Manifest] ist aufgebaut wie eine Doktorarbeit oder wie eine computerwissenschaftliche Studie. Sehr sauber. Wie seine Bomben.« (9)

Bis heute gibt es kein Schuldbekenntnis von Ted Kaczynski, der sogenannte »Unabomber« gewesen zu sein. Da es weder einen regulären Prozess noch eine Beweisaufnahme für die zahlreichen Beweisstücke gab, die das FBI in seiner Hütte gefunden haben will, ranken sich seitdem unzählige Vermutungen und Gerüchte um den Fall. War Ted Kaczynski tatsächlich der sogenannte »Unabomber«? Hatte er Mitstreiter, gab es eine Untergrundarmee FC? Oder war alles eine Inszenierung des FBI und Ted Kaczynski ein ferngelenkter »Sündenbock« in einem esoterischen Ritual, wie Verschwörungstheoretiker behaupten? (10) Der Fall des Unabombers endete 1998 mit der lebenslangen Verwahrung von Ted Kaczynski in einer Zelle aus Beton. »Nach einer Flucht von Orten und Worten ein letzter Blick: der Innenhof des Gefängnisses, in dem die Insassen ihre tägliche Runde drehen. In einem öden Kreislauf nirgendwohin landet die Utopie.«11
 

 


ANMERKUNGEN
(1) Ted Kaczynski, Industrial Society and Its Future, in: The Washington Post und The New York Times, 19. September 1995; veröffentlicht gegen die Zusicherung von »FC«, daraufhin die Anschläge einzustellen.

(2) US-spezifische Form der Absprache zwischen Anklage und Verteidigung, um das Verfahren abzukürzen, wenn dessen Zustandekommen u. a. aufgrund mangelnder Beweislage schwierig oder unmöglich erscheint.

(3) Das Netz. Unabomber, LSD & Internet, Dokumentarfilm für SWR / Arte, 2003, Absolut Medien Berlin.

(4) Kurt Friedrich Gödel (1906–1978), Mathematiker, erschütterte 1930 mit seinen Unvollständigkeits-sätzen die Grundlagen der Mathematik.

(5) Kaczynski (wie Anm. 1).

(6) Deutsche Übersetzung dieser Fassung in: Lutz Dammbeck, Das Netz. Die Konstruktion des Unabombers, Edition Nautilus, 2005, S. 79ff.

(7) Dr. Helmut Kohlenberger, »Im Netz gefangen«, www.t-h-e-n-e-t.com

(8) S.a. Pier Paolo Pasolini zu Konsumfaschismus in: »Studie über die anthropologische Revolution in Italien«, in: Corriere della Sera vom 10.6.1974, abgedruckt in: ders., Freibeuterschriften. Aufsätze und Polemiken über die Zerstörung des einzelnen durch die Konsumgesellschaft, München 1993, S. 46.

(9) Kevin Kelly, The UNABOMB Manuscript in Cyberspace, in: The WELL, 21. September 1995.

(10) Michael A. Hoffman II, »THE SCAPEGOAT: Ted Kaczynski, Ritual Murder and the Invocation of Catastrophe«, RevisionistHistory.org (11) Kohlenberger (wie Anm. 7).