Vorlauf

Lutz Dammbeck
HERAKLES HÖHLE (1988-1989)

Ende Mai 1988 weiss ich, dass ich für den Südwestfunk Baden-Baden den HERAKLES-Film realisieren kann. Vor 10 Jahren hatte ich in der DDR damit begonnen, aber nach hoffnungsvollem Beginn war das Projekt 1984 durch die Hauptverwaltung Film im Kulturministerium der DDR beendet worden.
Nun bin ich an einem anderen Ort, in einer anderen Zeit, und habe andere Produktionsbedingungen: fünf Drehtage für Videointerviews, sieben Drehtage mit der Filmkamera, zwei Wochen für den Schnitt und zwei Tage beim Südwestfunk für Sprachaufnahmen und Mischung. Auch der Titel des Films hat sich geändert, der nun HERAKLES HÖHLE heissen soll.
Am 11. und 12.Oktober 1989 sind auch zwei Drehtage in Westberlin geplant, im Gebäude der ehemaligen italienischen Botschaft im Tiergarten. Es regnet, und es ist kalt. Das Haus ist im Innern eine Ruine, in den Räumen stehen Wasserlachen, viele der Treppenaufgänge sind gesperrt, an den Wänden sind noch Gipsintarsien mit Liktorenbündeln und Beilen sowie Teile der originalen Wandbemalung.
In den Unkrautdolden und Büschen um das Gebäude herum bieten Prostituierte ihre Dienste an. Ein paar hundert Meter weiter pfeift der Wind über die Grenzanlagen am Potsdamer Platz. Ein Teil des Filmteams wohnt in der Gästewohnung des Kunsthistorikers Eckhart Gillen. Abends werden dort die Filmkasetten ausgelegt, beschriftet und der Dreh des nächsten Tages vorbereitet. Im Nebenraum läuft ein Fernseher. „Schau’ doch mal hin, im Osten tut sich was, das müsste dich doch interessieren“, ruft Eckhart aufgeregt. Egon Krenz gibt ein Interview. Was ich sehe, erscheint mir wunderlich. Wie kann man das ernst nehmen? Eine Posse. Was habe ich damit zu tun? Mich interessiert mein neuer Film, auf den ich seit 1978 warte.

Ich stehe unter Druck. Mein erster Film nach der Übersiedlung war unter merkwürdigen Umständen fast gescheitert. Das Porträt über drei Malerkollegen, die aus der ehemaligen DDR nach Westberlin übergesiedelt waren und nun dort lebten, war von einer Hamburger Firma im Auftrag des SWF und WDR produziert worden. Eine geringe Summe hatte das Ministerium für Innerdeutsche Beziehungen in Bonn beigesteuert. Die Negative wurden zum Entwickeln per Post aus Hamburg über die Transitstrecke durch die DDR nach Baden-Baden geschickt, und waren zunächst acht Wochen spurlos verschwunden. Dann tauchten sie wieder auf. Das Kopierwerk stellte allerdings nach der Entwicklung fest, dass alle Filmrollen belichtet, und damit unbrauchbar waren.
Im Zuge meiner Nachforschungen stellte sich heraus, dass die Hamburger Produktionsfirma gute Kontakte in die DDR unterhielt, um dort für Fernsehfilme Aufnahmen machen zu dürfen. Ein neu eingestellter Mitarbeiter, den ich aus der DDR als Leiter eines Filmclubs kannte, war eine Woche vor Drehbeginn überraschend in Hamburg aufgetaucht, und hatte eine Anstellung bei der Filmfirma gefunden. Das war Gesprächsthema unter den paar „Ehemaligen“ aus der DDR in Hamburg. Man riet sich gegenseitig zur Vorsicht. Irgendwie war bekannt, dass in den westdeutschen Behörden, nicht nur in den Auffanglagern, Mitarbeiter der DDR-Staatsicherheit saßen. Am nächsten Tag klingelte das Telefon und der Produktionsleiter der Hamburger Firma teilte mir mit, dass ebenjener ehemalige DDR-Filmklubleiter meinem Film als Aufnahmeleiter zugeteilt worden war. Auf meinen Protest hin hieß es: „Aber so was. Und wir dachten Sie freuen sich, weil Sie sich doch schon aus dem Osten her kannten?“ Dieser Mensch war es dann auch gewesen, der das Paket mit den Negativen zur Post gebracht hatte. Für mich war das Ganze einen deutlicher Hinweis: „Denk immer daran, wir sehen dich und was du machst. Pass gut auf!“
Wir drehten dann alle Aufnahmen für den Film noch einmal (ansonsten wäre es mit der Filmerei im Westen schnell vorbei gewesen).

Ich begann also den Film HERAKLES HÖHLE vorzubereiten und wollte dafür auch gerne die Tänzerin Fine Kwiatkowski engagieren. Mit ihr hatte ich in den letzten Jahren in der DDR bei meinen Mediencollagen zusammengearbeitet. Als sie für einen Verwandtenbesuch in Bochum ein befristetes Ausreisevisum bekam, hatten wir die Gelegenheit für ein kurzes Treffen auf dem Bochumer Hauptbahnhof genutzt. Damit sie für die Filmaufnahmen nach Hamburg kommen konnte, musste ich allerdings ein Gesuch an die Staatliche Konzert- und Gastspieldirektion der DDR stellen. Zwischen Juli und September 1989 versuchte ich vergeblich, für Fine das geforderte Visum zu erhalten. Auch eine Intervention des SWF führte nicht zum Erfolg. Anfang Oktober war klar, dass die DDR-Behörden die Tänzerin nicht für meinen Film ausreisen ließen und ich kurzfristig Ersatz suchen musste.
Nun saß ich in Westberlin und sah die Fernsehbilder aus dem Osten. Seit der Ausreise galt für mich und meine Familie eine Einreisesperre in die DDR, nach Westberlin kamen wir nur über die Transitstrecke oder mit dem Flugzeug. Mit dem, was ich da nun im Fernsehen sah, hatte ich nichts mehr zu tun, oder besser: wollte ich nichts mehr zu tun haben. Was ich sah, erschien mir auch mehr ein braves Happening als eine Revolution zu sein – nicht mehr wie die notwendige Unordnung, um eine neue Ordnung etablieren zu können. Was sollte dort Anderes werden, als es im Westen schon war, dachte ich. Ich schaltete den Fernseher aus, und arbeitete weiter.