Vorlauf

Lutz Dammbeck
DÜRERS ERBEN (1994-1996)

Von meiner Reise mit ZEIT DER GÖTTER durch Südamerika hatte ich neben den Erinnerungen an die Uferpromenade in Montevideo, das Hafenviertel La Boca in Buenos Aires und den Markt der Indios in Asuncion auch ein Sammelsurium aus Fotos, Büchern, Videokassetten und Notizen mitgebracht, das sich mit dem Siedlungsprojekt „Nueva Germania“, der Schwester Friedrich Nietzsches und Ihrem Mann Bernhard Förster beschäftigte. Warum hatte ich nicht, wie zunächst geplant, aus diesem Material einen Film gemacht? Über die Kolonie „Nueva Germania“ als einem „Projekt der Moderne“  ganzheitlich, vegetarisch, genossenschaftlich und antisemitisch? War es die Erkenntnis, dass dort, in den Wäldern Paraguays, außer den kläglichen Resten der hochfliegenden Pläne von Intellektuellen nichts war, außer vielleicht einer Projektionsfläche für Nazikitsch? Alles, was einen Film spektakulär und interessant für eine spätere Verwertung gemacht haben könnte, hätte ich dorthin bringen müssen. Ich hätte die Nachfahren der sächsischen Nueva-Germanen in Nazikostümen einkleiden müssen, um den sich anscheinend nie abnutzenden Thrill zu erzielen: blonde Bestien im Geiste von Nietzsches Übermenschen in einer geheimen Zuchtanstalt im Urwald, unter wehenden seidenen Hakenkreufahnen, umtost von Wagnerklängen. Material für ein scheinbar nie enden wollendes Spiel mit Symbolen, Riten, Zeichen, die längst nichts mehr bedeuteten. Hitler sells. Was hätte es sonst noch für ein Film werden können? Ein medienkritischer Film über das Vorgehen der BBC, über die Medien und über die innere Mechanik von einer ebenso routiniert wie eifernd betriebenen „Vergangenheitsbewältigung“?

Während ich über das Für und Wider so eines Projekts nachdachte und auch ein Exposé dazu schrieb, sah ich zufällig im Fernsehen eine Dokumentation über den ersten Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main. Ich sah graue und verwaschene Bilder. Der Prozess erschien nüchterner und unspektakulärer wie die inszenierte Theatralik und der Pomp der Nürnberger Prozesse, eher wie eine Arbeitssituation. Es war spät, und ich war etwas betrunken. Ich schaltete den Fernseher aus. Dennoch fraß sich ein Gedanke in meinem Gehirn fest: Hätte nicht meine Generation das Gleiche mit ihren Vätern zu tun? Also: hingehen und Fragen stellen nach dem WARUM IST ES SCHIEF GEGANGEN. Aber nicht den Fehler der 68er wiederholend und einen SCHULDSPRUCH FÄLLEN. Das Erzählte einfach so stehen lassen.
Und so versuchte ich drei Jahre, einen Film über Markus Wolf und seine Familie auf die Beine zu stellen. Natürlich vergeblich. Zweimal traf ich mich mit Markus Wolf. Die Treffen wurden vermittelt durch eine prominente Hamburger Anwaltskanzlei, die Wolf bei seinen zahlreichen Rechtshändeln vertrat und ab und an als Stargast der Hamburger Society der Elbvororte präsentierte. Aber Wolf war schlau (und finanziell berechnend) genug, den einen Porträtfilm, den er zulassen wollte, von jemand anders als ausgerechnet mir machen zu lassen. Es ging ihm ums Geld, aber nicht nur. Es ging dem ehemaligen Geheimdienstmann auch um sein Bild in der Geschichte. Und er misstraute mir, dieses ihm genehme Bild liefern zu können, oder zu wollen.
Dass ich mich dann einem Film über die Anfänge der Leipziger Malerschule zuwandte, war, so glaube ich mich zu erinnern, eine Ersatzhandlung. Wenn es nicht ging, über eines der Häupter der politisch-ästhetischen Hydra der untergegangenen DDR einen Film zu machen, warum dann nicht statt dessen einen Film über die Hausgespenster der heutigen Leipziger Schule, die damals, als ich selbst an der Leipziger Akademie studierte, als Obermaschinisten des „Betriebssystem Kunst“ der DDR tätig waren. Warum nicht einen Film über das Gebräu machen, das in den 1950er-1960er Jahren die Köpfe füllte und die Gefühle beeinflusste? Instinktiv ahnte ich wohl auch, dass ich selbst von dieser Erziehungsanstalt Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst geprägt war. Vielleicht wollte ich auch herausfinden, was dort an mich vererbt worden war.

Beim MDR fand ich einen Redakteur, der sich für mein Vorhaben zu interessieren schien. In der DDR hatte er den Filmklub in einem Klubhaus in Adlershof geleitet, und mich mit meinen Filmen dorthin eingeladen. Der Klub war für sein avanciertes Programm und sein Szenepublikum bekannt. Nach der Wende wurde der spätere Redakteur des MDR dann als Zuträger für die Staatssicherheit enttarnt, überstand aber die kurzen und leidenschaftslosen Diskussionen im Sender und ist heute noch auf seinem Platz als Redakteur beim Mitteldeutschen Rundfunks in Leipzig.
Die Recherchen und der Dreh für DÜRERS ERBEN waren zäh und anstrengend. Ich hatte mir ein Gruppenbild Leipziger Maler als Ausgangspunkt für die Recherchen ausgewählt, weil darauf ein Teil derjenigen zu sehen war, die nach 1945 in Leipzig etwas zu sagen hatten. Alle Maler auf dem Bild waren Genossen der SED, einige bekleideten auch hohe Funktionen in dieser Partei sowie im Künstlerverband der DDR. Später, in der Zeit der so genannten Entspannungs- und Ostpolitik der SPD-geführten Bundesregierung, begann der Aufstieg einiger dieser Gruppe, welcher durch westdeutsches Interesse beglaubigt wurde. Die neuen „Malerfürsten“ wurden nun in westdeutschen Zeitschriften und Magazinen als „Dürers rote Erben“ bezeichnet und galten Meinungsführen wie Günther Grass als Maler, die „deutscher“ malten als ihre westdeutschen Kollegen.
Das von mir ausgewählte Gruppenbild war auch deshalb interessant, weil es ein Tribut an den Mentor der Gruppe, Alfred Kurella und dessen Träume von einem sozialistischen Künstlerkollektiv war. Kurella hatte in seiner Jugend in München dem Expressionismus und der Moderne nahe gestanden, hatte sich aber dann unter dem Einfluss Aragons davon losgesagt. Später war er Komintern-Funktionär der KPD und leitete eine Zeit lang in Leipzig das von ihm gegründete Literaturinstitut, eine Schule für Schriftsteller. Während der sogenannten Formalismusdebatte in der DDR spielte er eine aktive Rolle. Wie seine Frau Sonja, die beim Rat des Bezirks Leipzig für Fragen der Kultur zuständig war, hatte Alfred Kurella großen Einfluss auf die Kunstentwicklung in Leipzig, den er in seiner Zeit als Mitglied des Zentralkommitées der SED in Berlin noch verstärken konnte. Er hatte Werner Tübke in Leipzig entdeckt und protegierte ihn bis zu seinem Tod.
Nun, Anfang der 1990er Jahre, befanden sich ehemalige Malerfürsten der DDR, wie Werner Tübke oder Bernhard Heisig, in einer Übergangsphase, in der noch nicht klar war, ob und wie es mit ihnen weiter gehen würde. Sie schwankten zwischen der Furcht, als ehemalige Staatsmaler stigmatisiert oder gar verurteilt zu werden und der Hoffnung, nun endlich den ihnen angemessen erscheinenden Platz in der gesamtdeutschen Spitzengruppe der Künstler einnehmen zu können. Was meine Person betraf: Einerseits kannten sie mich noch als Studenten der Leipziger Hochschule, ich hatte sozusagen Stallgeruch und sie hatten wohl das unbestimmte Gefühl, vielleicht sogar das kurzzeitige Schuldgefühl, etwas erzählen zu sollen oder gar zu müssen. Andererseits wussten sie nicht, wie weit ich im Westen schon vernetzt war und ob ich ihnen nutzen oder schaden würde und waren dementsprechend vorsichtig.

Am unangenehmsten und unergiebigsten war das Interview mit Wolfgang Mattheuer. Der ehemals von uns Studenten als ironischer, offener und freier Geist geschätzte Maler hatte sich inzwischen hinter einer harten Panzerung von Griesgram und Misstrauen versteckt, die nicht einen Moment ein offenes Gespräch zuließ. Gerade von ihm hatte ich mir eine interessante Schilderung des Innenlebens der Leipziger Szenerie erhofft, war er doch als junger Student der Gebrauchsgrafik Anfang der 1950er Jahre Woche für Woche mit Kurt Magritz nach Berlin gefahren, um dort im Zentrum der Aktivitäten der Formalismus-Debatte kleine Vignetten und andere grafische Ausschmückungen für die jeweiligen Ausgaben der Zeitung der Sowjetischen Militäradministration, die Tägliche Rundschau, herzustellen. Das Team und ich waren nach dem zähen und ergebnislosen Versuch, Mattheuer hinter seiner unfreundlichen und ängstlichen Verschanzung zu einem offenen Gespräch hervorzulocken, frustriert und erschöpft. „Jetzt würde ich gern ein ganzes Fass gelbe Farbe auskippen“, sagte der Tonmann, der bei Baselitz an der Westberliner Kunsthochschule Malerei studiert hatte und meinen Interviewversuch hinter seinem Tonbandgerät fassungslos verfolgt hatte.

Das Budget, das mir für den Film zur Verfügung stand, war knapp bemessen. Das Interesse an DDR-Kunst, zumal aus dem Zeitraum von 1945 bis 1961, war gering. Das Geld, das der MDR in die Produktion investierte alle anderen Sender der ARD und auch das ZDF hatten sofort abgewunken war minimal. Ich musste mich um einen Zuschuss aus den Mitteln des Kunstfonds in Bonn bemühen, um drehen zu können. Auch alle Filmförderungen hatten abgelehnt, niemand von den Kollegen, die in den Gremien saßen, hatte etwas mit dem Stoff anfangen können. Zu weit weg, die Maler unbekannt, zu sehr Osten. Für die Montage hatte ich vierzehn Tage Zeit, dann noch einmal drei Tage für die Tonmischung. Dann gab es beim MDR Diskussionen über die Länge des Films. Vorgegeben waren mir 57 Minuten und 30 Sekunden. Das bedeutete, dass ich mich von einigen mir sehr wichtigen Szenen hätte trennen müsste. Auch würden viele Bilder nicht als Insert gezeigt werden können. Mir fehlten wenigstens vier Minuten. Dafür kämpfte ich nun. Die beiden für den Film beim MDR verantwortlichen Redakteure waren nicht frei in ihrer Entscheidung. DÜRERS ERBEN war einer der ersten Filme, die der MDR für Arte herstellte. Beide Redakteure hielten sich deshalb sklavisch an die Metrage-Vorgaben von Arte, die, wie ich später von Arte-Redakteuren erfuhr, bei etwas Courage durchaus locker zu handhaben waren. Zudem waren beide unsicher noch aus anderen Gründen: der eine trug seine bisher verheimlichte Stasitätigkeit mit sich herum und der andere, mittlerweile Chef einer der größten Filmförderungen Deutschlands, kam aus untergeordneter Position vom Fernsehen der DDR und fühlte sich noch unsicher in seiner neuen Rolle. So fielen wichtige Szenen diesem Metragediktat zum Opfer, etwa Aufnahmen der Astoria-Bilder von Werner Tübke, die ihm den Weg zu seinem späteren Mentor und Protegée Alfred Kurella eröffneten, oder die Sequenzen, in denen Bernhard Heisig über seine Erlebnisse am 17.Juni 1953 in Leipzig spricht. Auch die Teile des Gesprächs mit Werner Tübke, wo er erwähnt, von Alfred Kurella kurz vor dessen Tod eine Porträtzeichnung gemacht zu haben. Das Motiv der sterbenden Mutter ist ein klassisches Motiv. Nun zeichnete Tübke „die Mutter“, die ihn als Künstler geboren hatte, Alfred Kurella. Grandios, aber leider nicht im Film, der so nun nicht mehr als eine Skizze blieb, die andeutete, was möglich gewesen wäre.
Aus dem Kreis der ehemaligen Akteure, mit denen ich mich befasste, erschien mir im Rückblick die Person Alfred Kurellas am interessantesten. Kurella hatte sich und seine anfängliche Begeisterung für den Expressionismus und die moderne Kunst in einem schmerzhaften Häutungsprozess selbst exorziert und war in der DDR zu einem der Gralshüter eines volksnahen und verständlichen sozialistischen Realismus geworden. In seiner durch die Zeiten, Ideologien und Kunstauffassungen mäandernden Biografie und Praxis, die er schließlich als stalinistischer Kulturpolitiker UND jugendbewegter Wandervogel beendete, fand ich viele inhaltliche und personelle Schnittstellen und Anschlüsse zu den von mir für den Film ZEIT DER GÖTTER gesammelten Materialien, die mich auch nach dem Ende der Arbeit an DÜRERS ERBEN weiter beschäftigten.

Dass ich über die erwähnte Skizze nicht hinausgehen konnte, erscheint mir heute, im Rückblick, umso bedauerlicher wegen des sich in dem Jahrzehnt danach so heftig entwickelnden „Deutsch-Deutschen Bilderstreits“ und dem Kampf um die Deutungshoheit über die ehemalige DDR-Kunst. Während der über Jahre andauernden Auseinandersetzung wechselten auch Akteure die Fronten. Ein Berliner Kunstkritiker, der sich noch zu DDR-Zeiten und in den ersten Jahren nach der Wende einen Namen als guter Kenner der sogenannten „anderen DDR-Kunst“ gemacht hatte, dissertierte plötzlich über Bernhard Heisig. Verbunden mit dem Erwerb des Doktorhuts war das Kuratieren einer Serie von Großausstellungen mit den Bildern Heisigs in wichtigen deutschen Museen und die Herausgabe mehrer dicker Kataloge und Bücher. Das Leipziger Museum kaufte Bilder Heisigs. Das Geld dafür war wieder da. Das Ganze lief unter dem Motto: „Versöhnen statt Spalten“. Vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder wurde Heisig in diesem Zusammenhang gar als einer der bedeutendsten deutschen Künstler des 20.Jahrhunderts tituliert.
So wurde auf wundersame Weise aus dem Staatsmaler, dem kein Leninbild zu peinlich war und der ironischerweise die einzige echte Erfahrung mit der Arbeiterklasse bei einer revolutionären Aktion (am 17.Juni 1953 in Leipzig) nicht darstellen konnte, durfte oder wollte, so wurde aus dieser tragischen Figur nun ein grüblerischer Selbst- und Geschichtsbefrager mit dissidentischen Meriten. Seine eigene Sammlung von Grafiken, Künstlerbüchern und Devotionalien des ehemaligen DDR-Undergrounds verkaufte der Kunstkritiker übrigens nach seinem Seitenwechsel an ein Berliner Museum. Er liegt im Trend. „Komm‘ aus deinem Schützengraben, der Kalte Krieg ist doch zu Ende, es geht ums Versöhnen, statt ums Spalten...“ hört der, der kritisch nachfragt. Nun werden Gemeinsamkeiten konstruiert, wo niemals welche waren. Doch, obwohl dabei vielerlei Opportunismus im Spiel ist, wird doch ein ernstes Thema berührt. Es ist die Frage: Wie kommt Erinnerung zustande und wie wird daraus Geschichte und die damit verbundene Historisierung von Personen, zum Beispiel von Künstlern und deren Werk?